Gutachten spielen eine immer größere Rolle, sowohl im Strafprozess als auch in der Strafvollstreckung und im Strafvollzug. Formal haben diese Gutachten zwar nur eine das Gericht (bzw. die Anstalt) beratende Funktion, d. h., sie sollen Tatsachen, die deinen körperlichen oder seelischen Zustand betreffen, für eine juristische Entscheidung aufarbeiten, ohne diese selbst zu treffen – faktisch erhält das für die Entscheidung eingeholte Gutachten jedoch ausschlaggebende Bedeutung. In den allermeisten Fällen wird das Gericht oder die Anstaltsleitung in ihrer Entscheidung dem Ergebnis folgen, zu dem das Gutachten kommt. Deswegen kann so ein Gutachten für dich zukunftsentscheidend sein und muss unbedingt – besonders von deiner Verteidigerin – ernst genommen werden!
Du musst damit rechnen, dass in diesen Gutachten alles auftaucht, was die Psychologin von dir weiß oder von dir zu wissen glaubt. Spätestens hier wirst du merken: Auch sogenannte „vertrauliche Gespräche“ sind oft plötzlich nicht mehr vertraulich, sondern in schriftlicher Form der Justiz zugänglich.
Die Psychologin hat in ihren Interpretationen deiner Persönlichkeit, die sie in ihren Stellungnahmen beschreibt, die Freiheit, eine Maßnahme für oder gegen dich gut oder schlecht zu heißen. Es ist wichtig, sich hier immer wieder daran zu erinnern, dass die gutachterliche Stellungnahme nichts sein sollte, von dem man sich zu sehr beeindrucken oder bestimmen lässt. Letztlich über den Antrag entscheiden wird – wie gesagt – die Anstaltsleitung oder das Gericht. Die negative Stellungnahme der Psychologin zu einem Antrag, den du gestellt hast, oder das für dich negative Gutachten müssen also nicht etwa bedeuten, dass die Maßnahme, die du beantragt hast, für dich nicht geeignet ist oder du dich tatsächlich in dem Zustand befindest oder befunden hast, den die Psychologin in ihrem Gutachten beschreibt, sondern können genauso gut darauf beruhen, dass die Psychologin dich entweder nicht verstanden hat oder aus den unterschiedlichsten Gründen – etwa weil du dich geweigert hast, mit ihr zu kommunizieren – nicht gut auf dich zu sprechen ist. Es muss dir klar sein, dass sie genauso gut zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, wenn sie auf „deiner Seite“ gewesen wäre.
20.1. In welchen Fällen werden Gutachten eingeholt?
Schuldfähigkeit
Vor einer Verurteilung, d. h. während des laufenden Strafprozesses, wird häufig ein Gutachten erstattet, wenn es um die Frage geht, ob die Schuldfähigkeit der Betroffenen während der angeblichen Straftat eingeschränkt (§ 21 StGB) oder sogar ausgeschlossen (§ 20 StGB) war. Dies kann aus verschiedenen Gründen der Fall sein, wie z. B. aufgrund erheblicher Alkoholisierung zur Tatzeit oder psychischer Erkrankungen. Es bedeutet, dass du entweder gar nicht bestraft werden kannst (§ 20 StGB) oder deine Strafe gemindert werden muss (§ 21StGB). In diesen Fällen müsst du und deine Anwältin immer daran denken, dass unter Umständen „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ im Raum stehen (§ 63 und § 64 StGB). Zu diesem Problem kannst du Weiteres im nächsten Punkt sowie in →Kapitel 19 Psychatrie und andere Maßregeln nachlesen.
Unterbringung im Maßregelvollzug
Es werden stets Gutachten eingeholt, wenn mit dem Urteil das Verhängen von sogenannten „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ im Raum steht, also bei drohender Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus (§ 63 StGB), eine Entziehungsklinik (§ 64 StGB) oder in die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB).
Wird durch ein solches Gutachten im Strafprozess deine Schuldunfähigkeit aufgrund einer „Persönlichkeitsstörung“ bzw. anderer Krankheitsbegriffe (§ 20 StGB) angenommen, wirst du freigesprochen und in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen (→Kapitel 11 Sicherungsverwahrung). Dies geschieht in der Regel nach § 63 StGB. Die Unterbringung ist zeitlich unbegrenzt, eine Überprüfung, ob die Voraussetzungen für die Unterbringung noch vorliegen, findet einmal jährlich statt. Du kannst aber auch einen Antrag stellen, dass eine Überprüfung früher durchgeführt wird, wenn es dafür besondere Gründe gibt (§ 67e StGB).
Liegt ein solches Gutachten vor, das die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsklinik oder der Sicherungsverwahrung empfiehlt, so solltest du versuchen, ein Gegengutachten zu beantragen, das z. B. besagt, dass du zwar zum Tatzeitpunkt aufgrund bestimmter Faktoren nach § 20 StGB unzurechnungsfähig warst (und damit Freispruch mangels Schuldfähigkeit), dies aber auf deinen jetzigen Zustand nicht mehr zutrifft und deshalb die Voraussetzungen des § 63 StGB (insbesondere die Gefahr für die Allgemeinheit) nicht vorliegen.
Kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass nicht auszuschließen ist, dass du vermindert schuldfähig warst (§ 21 StGB), wird deine Strafe gemildert. Das klingt erstmal positiv. Das kann es auch sein. Allerdings besteht auch hier die Gefahr einer Psychiatrisierung, weil auch im Anschluss an ein Urteil, das den § 21 StGB anwendet, auf Maßregeln erkannt werden kann.
Es kann auch passieren, dass du schon während des Ermittlungsverfahrens statt eines Haftbefehls einen Unterbringungsbefehl bekommst oder dass der Haftbefehl entsprechend umgewandelt wird. Das ist auch noch während deiner U-Haft möglich. In diesem Fall bleibst du nach § 126a StPO bis zu deinem Gerichtstermin in der Psychiatrie (Abteilung forensische Psychiatrie), wenn anzunehmen ist, dass du nach §§ 63 oder 64 StGB verurteilt, also in der Psychiatrie oder einer Entziehungsanstalt untergebracht wirst und wenn die „öffentliche Sicherheit“ eine solche Unterbringung erfordert. Für die Entscheidung, ob ein solcher Unterbringungsbefehl zu erlassen ist, holt das Gericht ebenfalls ein Gutachten ein.
Zur Vorbereitung eines solchen Gutachtens kann das Gericht – allerdings nur, wenn es für die Begutachtung unerlässlich und insbesondere auch erfolgversprechend ist – anordnen, dass du bis zu sechs Wochen zur Beobachtung in die Psychiatrie eingewiesen wirst (§ 81 StPO). Eine solche Anordnung darf aber z. B. nicht ergehen, wenn für die Erstellung des Gutachtens deine freiwillige Mitwirkung erforderlich ist, du diese aber verweigerst und deshalb ein Erkenntnisgewinn auch während der Unterbringung sowieso nicht zu erwarten ist (hierzu sehr deutlich: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 1523/01).
Verhandlungsfähigkeit, Haftfähigkeit
Ob du (selbstverschuldet) verhandlungsunfähig oder haftunfähig bist, wird ebenfalls durch eine Gutachterin festgestellt.
Bei der Frage der Verhandlungsfähigkeit, d. h. der Frage, ob man am Prozess teilnehmen kann, gibt es die Möglichkeit der selbstverschuldeten und der unverschuldeten Verhandlungsunfähigkeit. Im ersten Fall (Selbstverstümmelung, Hungerstreik, „freiwillige“ Suizidversuche, Medikamenten- und Drogenkonsum usw.) kann das Gericht die Angeklagte von der Verhandlung ausschließen und den Prozess ohne sie durchführen, das gilt auch, wenn sie noch nicht zur Sache befragt worden ist (§ 231a StPO). Im zweiten Fall (schwerwiegende Konzentrations-, Kreislauf- oder Organstörungen) kann nicht ohne die Angeklagte verhandelt werden. Dann muss die Verhandlung entweder verschoben oder die Dauer der Verhandlungstage gekürzt werden, z. B. auf nur zwei Stunden täglich, mit Einlegung von Pausen, ständige Anwesenheit einer oder mehrerer Ärztinnen usw. Wenn die Verhandlung aufgrund von Verhandlungsunfähigkeit verschoben wird, bedeutet dies für die Angeklagte keine Haftunterbrechung, sondern ihre zwischenzeitliche Verlegung in ein Gefängniskrankenhaus.
Haftunfähig ist schließlich diejenige Gefangene, bei der die U-Haft oder Strafhaft eine nachhaltige und bleibende gesundheitliche Schädigung bewirkt. Dabei muss jedoch feststehen, dass diese gesundheitliche Schädigung in direktem Zusammenhang mit der Haft steht. Tatsächlich anerkannt wird in der Regel nur akute Lebensgefahr. Wenn bei dir Haftunfähigkeit festgestellt wird, kann der Haftbefehl dann außer Vollzug gesetzt oder die Strafhaft unterbrochen werden (§ 455 StPO). In der Regel wirst du dann aber aufgrund deines gesundheitlichen Zustandes in ein Krankenhaus überführt.
Die „gutachterlichen“ Stellungnahmen in Strafhaft
Auch nach einer Verurteilung, während deiner Zeit im Knast, spielen Gutachten und die psychologischen Stellungnahmen der sozialen und psychologischen Fachdienste eine große Rolle. Psychologische Stellungnahmen werden durch die Knastpsychologinnen formlos und ohne die Einhaltung der für formelle Gutachten vorgeschriebenen Mindeststandards abgegeben. Nur in seltenen Fällen hast du einen gesetzlichen Anspruch auf eine formale Begutachtung durch eine externe Gutachterin (z. B. § 56 Abs. 2 StVollzG NRW). Hast du allerdings das Gefühl, dass die Stellungnahmen vollständig unbrauchbar und inhaltsleer oder falsch sind, solltest du trotzdem versuchen, eine zweite Stellungnahme oder ein externes Gutachten zu erwirken. Die Stellungnahmen der Psychologinnen haben ein ganz entscheidendes Gewicht bei Anträgen auf Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen, vorzeitige Entlassungen, Lockerungen usw. So wird z. B. im Hinblick auf eine Entlassungsprognose die Gefangene daraufhin untersucht, ob eine sogenannte positive oder negative Legalprognose zu stellen ist. Eine positive Legalprognose ist Voraussetzung dafür, dass du frühzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen wirst (z. B. zum Halbstrafen- oder häufiger zum Zweidrittelzeitpunkt). Das Ziel von einer solchen Prognose ist herauszufinden, ob bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit du dich nach der Haftentlassung straffrei durchs Leben bewegen wirst. Dasselbe kann auch schon überprüft werden, wenn es um die Gewährung von Vollzugslockerungen geht (→Kapitel 10 Kontakte nach draußen). Dass sich dein menschliches Verhalten durch (pseudo-)wissenschaftliche Verfahren nicht vorhersagen lässt, liegt auf der Hand. Allerdings wirst du gezwungen sein, dieses Spiel bis zu einem gewissen Punkt mitzuspielen, wenn du Vollzugslockerungen oder eine frühzeitige Haftentlassung erreichen willst.
Die Psychologinnen, die zum psychologischen Dienst der Anstalt gehören, sind in der Regel keine ausgebildeten Gutachterinnen. Teilweise werden ihre Stellungnahmen von „richtigen“ Gutachterinnen zerrissen. Es lohnt sich daher in Fällen, in denen du mit dem Ergebnis nicht zufrieden bist, eine Überprüfung solcher Stellungnahmen im Rahmen eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG zu beantragen (siehe im Rechtsteil →Kapitel 21–26). Lesenswert zu der Thematik der Stellungnahmen des psychologischen Dienstes ist der Artikel „Die Schlechtschreiber“ in der Gefangenenzeitschrift „Lichtblick“, Heft 1/2013.
Hinweis: Die Erstellung eines Gutachtens ist in der Regel ein sogenannter „ungeschriebener“ Grund dafür, dass du auch in Strafhaft einen Anspruch auf die Beiordnung einer Pflichtverteidigerin hast. D. h., du bekommst für den Rechtsstreit, in dessen Rahmen das Gutachten erstellt wird (z. B. die Frage, ob du zum Zweidrittelzeitpunkt rauskommst), eine Verteidigerin bezahlt. Von dieser Möglichkeit solltest du unbedingt Gebrauch machen, da es fast unmöglich ist, als Betroffene und Nichtjuristin/-psychologin alleine mit der Frage der Begutachtung umzugehen (s. u.). D. h., wenn du erfährst, dass du begutachtet werden sollst, meldest du dich bei deiner Verteidigerin, damit sie sich für dich als deine Pflichtverteidigerin bei Gericht meldet.
Wiederaufnahmeverfahren
Schließlich kann es für ein Wiederaufnahmeverfahren (also nach abgeschlossenem Verfahren und rechtskräftigem Urteil) sinnvoll sein, ein (neues) Gutachten einzuholen, um das Verfahren neu aufzurollen (§ 359 StPO). D. h., du lässt dich von einer Psychiaterin deiner Wahl freiwillig begutachten und kannst so unter Umständen das für dich negative, ältere Gutachten widerlegen. In diesen Fällen besteht aber meistens das Problem, dass es sich dann aus Sicht des Gerichtes bei dem neuen Gutachten nicht um ein „neues Beweismittel“ handelt. Dies wäre jedoch Voraussetzung für eine Wiederaufnahme. Nur in sehr seltenen Ausnahmefällen kann ein neues Gutachten (mit einem anderen Ergebnis als das alte Gutachten) ein solches neues Beweismittel darstellen. Das ist vorher gründlich mit deiner Anwältin zu besprechen, weil sonst das neue Gutachten, was erstmal aus eigener Tasche bezahlt werden müsste, wertlos ist.
20.2. Wer führt die Begutachtung durch?
Gutachten werden von „Sachverständigen“ erstattet (§ 75 StPO). Diese sind im Regelfall Psychiaterinnen, teilweise werden auch Psychologinnen tätig. Geht es um Fragen der Schuldfähigkeit sowie um die Verhängung von Maßregeln, sollen tendenziell Psychiaterinnen bestellt werden, während die Erstellung einer Entlassungsprognose auch häufig von Psychologinnen vorgenommen wird. Grundsätzlich werden Psychiaterinnen tätig, wenn es um Verhalten der Betroffenen geht, das „Krankheitswert“ (d. h., wenn es um die Frage geht, ob die Betroffene unter einer psychischen Krankheit leidet) hat. Wenn es um körperliche Leiden geht, z. B. im Rahmen der Frage, ob bei dir Haftunfähigkeit vorliegt, wirst du in der Regel durch eine Ärztin begutachtet. Wer in welchen Fällen die Begutachtung durchführt, richtet sich also nach dem Einzelfall und unterliegt nicht starren gesetzlichen Vorgaben. Das Gericht kann letztendlich eigenmächtig entscheiden, wer den Gutachterinnenjob bekommt.
In Fällen, in denen das Gericht die Notwendigkeit sieht, eine Begutachtung vornehmen zu lassen, bestellt es also eine Gutachterin, die es grundsätzlich selbst auswählt. Das ist im Hinblick auf die (durch das Gesetz vorgegebene) „Neutralität des Gerichts“ nicht unproblematisch. Eine aktuelle Befragung (Studie der Ludwig-Maximilian-Universität München, vorgestellt in: „Deutsches Ärzteblatt“, Heft 6/2014, Seite A 210 – A 212) von 250 Sachverständigen aus Bayern ergab, dass bei 48 % der Psychologinnen und bei 30 % der befragten Psychiaterinnen die Gutachtentätigkeit mehr als die Hälfte ihres Jahreseinkommens ausmacht. Darüber hinaus ergab die Befragung, dass bei 42 % der Psychologinnen sowie bei 30 % der Psychiaterinnen das bestellte Gutachten die Tendenz bestätigt, die im Gutachtenauftrag signalisiert wurde. Dass eine solche Tendenz vom Gericht vorgegeben wird, haben 57 % der Psychologinnen und 34 % der Psychiaterinnen „vereinzelt“ oder „häufig“ selbst bestätigt gesehen oder von Kolleginnen gehört.
An diesen Zahlen wird das Problem sichtbar, dass sachverständige Gutachterinnen die durch das Gericht vorgegebenen Tendenzen bestätigen, da sie ansonsten fürchten, nicht mehr durch das Gericht bestellt zu werden, und damit eine für ihre berufliche Existenz entscheidende Einnahmequelle verlieren würden. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass diese finanziellen Zusammenhänge die eigentlich durch das Gesetz vorgesehene „Neutralität“ der Gutachterinnen gefährdet.
20.3. Gibt es Mitspracherechte bei
der Auswahl der Gutachterin?
Eine Gutachterin kann das Gericht von sich aus bestellen, wenn es ein Gutachten für erforderlich hält. Dafür kann es die Verhandlung unterbrechen und das Ergebnis des Gutachtens abwarten oder schon vor Beginn des Prozesses ein Gutachten in Auftrag geben. Die Staatsanwaltschaft kann auch die Einholung eines Gutachtens beantragen, genauso wie die Verteidigung. Es besteht in allen Fällen die Möglichkeit, bei Gericht eine Gutachterin vorzuschlagen. Viele Verteidigerinnen werden wissen, wer die „harten Knochen“ sind und wer dagegen etwas besonnener vorgeht, also als Gutachterin wünschenswert ist. Ob das Gericht deinem oder dem Vorschlag deiner Verteidigerin folgen wird, ist nicht vorhersehbar. Es ist grundsätzlich auch möglich, dass zwei Gutachten nebeneinander erstattet werden. Ein solcher Antrag kann z. B. erfolgreich sein, wenn es dir gelingt darzulegen, dass die Forschungsmittel/Fachkenntnisse der zweiten – von dir vorgeschlagenen Gutachterin – denen der ersten überlegen sind. In Fällen, in denen es z. B. um eine mögliche Spielsucht geht (ob bei deren Vorliegen von verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB auszugehen ist, ist in der „Fachwelt“ noch umstritten), kann es begründet sein, eine Gutachterin vorzuschlagen, die auf diesem Gebiet ihren Schwerpunkt hat und die These vertritt, dass die Spielsucht eine Sucht ist, die genauso ernst zu nehmen ist wie sogenannte stoffgebundene Süchte (Drogen, Alkohol usw.). Sich für eine bestimmte, selbstgewählte Gutachterin einzusetzen, ist sehr sinnvoll. Versucht man dies nicht, ist es möglich, dass eine Gutachterin tätig wird, die z. B. grundsätzlich der Meinung ist, dass eine Spielsucht nicht zu den ernstzunehmenden Krankheiten gehört und damit ein für dich negatives Gutachten schreibt.
Tipp: Um dem Gericht Arbeit abzunehmen und so die Chancen zu erhöhen, dass sie die von dir vorgeschlagene Zweitgutachterin zulassen, solltest du mit der Gutachterin im Vorhinein klären, ob und wann sie Zeit hätte, und dies dem Gericht am besten schon mit Antragstellung mitteilen.
20.4. Kann man Gutachterinnen
ablehnen?
Gutachterinnen können abgelehnt werden, wenn sich im Prozess herausstellt, dass die Besorgnis der Befangenheit besteht, genauso wie dies auch bei der Ablehnung von Richterinnen möglich ist (§ 74 i. V. m. § 24 StPO). Wenn die Ablehnung erfolgreich ist, bedeutet das, dass die abgelehnte Gutachterin nicht mehr weiter ihre fachliche Rolle im Prozess ausüben darf und eine neue Gutachterin bestellt werden muss. Aber Achtung: Selbst wenn die Gutachterin abgelehnt wurde, darf sie immer noch als „normale“ Zeugin im Prozess vernommen werden, d. h., alles, was du ihr in euren Gesprächen an Tatsachen erzählt hast, kann nach wie vor gegen dich verwandt werden.
Bejaht wird die Besorgnis der Befangenheit z. B. in Fällen, in denen die Gutachterin durchblicken lässt, wie sie selbst über die dir vorgeworfene Tat urteilen würde (das ist Sache des Gerichts!), oder wenn sie eigene Nachforschungen angestellt hat. Also immer, wenn sie über den Gutachtenauftrag hinausgeht. Es ist in so einem Fall wichtig, sofort kundzutun, dass ein Ablehnungsgrund besteht. Am nächsten Prozesstag kann das schon zu spät sein. Wenn du verteidigt wirst, dann besprich ein solches Vorgehen mit deiner Verteidigerin. Ob bei bestehender Besorgnis der Befangenheit eine Ablehnung angestrebt werden soll, ist in jedem Fall eine taktische Frage. Schließlich ist diejenige, die danach kommt, nicht unbedingt besser.
Wird man begutachtet, während man nach abgeschlossenem Verfahren in Strafhaft sitzt (s. o.), kann man die Gutachterin nicht ablehnen.
20.5. Gespräche mit der Gutachterin –
Pass auf, was du sagst!
Die Gutachterin oder Psychologin, die ein Gutachten (für den Prozess) oder eine Stellungnahme (in Haftsachen) über dich erstellen soll, macht sich anhand deiner Akte ein Bild von deiner Vorgeschichte. Dabei kann sie auch eventuell schon früher über dich erstellte Gutachten und Stellungnahmen lesen und einbeziehen. Danach sucht sie dich entweder in der Zelle auf, lässt dich zu sich bringen oder macht – wenn du nicht in Haft sitzt – einen Termin zur Begutachtung aus. Sie informiert sich aus der Akte und Krankenakte deines derzeitigen Knastaufenthalts (wenn du in Haft sitzt) und versucht, mit dir ein Gespräch über den Tathergang, deine Geschichte und deine persönlichen Probleme zu führen.
Ähnlich wie den Sozialarbeiterinnen gelingt es der Psychologin oft, vor allem im Jugendvollzug, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen. Auch sie tritt als deine Helferin auf. Während du aber bei der Sozialarbeiterin konkrete Hilfe, etwa in Erledigung von Formalkram erwarten kannst, ist die „Hilfe“ der Psychologin viel komplizierter und undurchsichtiger. Viele Psychologinnen sind durchaus in der Lage zu erkennen, was im Knast abläuft, und sitzen dann, ähnlich wie manche Sozialarbeiterinnen, zwischen den Stühlen. Doch auch hier ist nicht klar, ob und in welcher Situation sie sich für einen der beiden Stühle entscheiden – und für welchen. Die Tatsache, dass eine Psychologin möglicherweise gegen den in ihrem Knast herrschenden Vollzug oppositionell auftritt, heißt noch lange nicht, dass sie auf deiner Seite steht.
Die Gutachterin ist verpflichtet, dich darauf hinzuweisen, dass sie an keine Schweigepflicht gebunden ist – schon gar nicht gegenüber dem Gericht, d. h., dass alles, was du ihr erzählst, auch durch sie an das Gericht weitergeleitet wird. An diese Belehrungspflicht wird sie sich aber in den seltensten Fällen halten. Deshalb denk immer selbst dran, wenn du mit ihr sprichst:
Du musst grundsätzlich damit rechnen, dass alles, was du der Gutachterin erzählst, Eingang in die Akten findet. Die Untersuchung fängt mit der Begrüßung an und hört mit der Verabschiedung auf. Alles, was dazwischenliegt (jede Gefühlsäußerung, jedes Wort, jede Bewegung), wird beobachtet und begutachtet (zum Thema Umgang mit Ärztinnen findest du auch noch ein paar grundsätzliche Anmerkungen in →Kapitel 18 Gefängnismedizin und bedrohliche Eingriffe). Es gibt keine Vertraulichkeit. Falls du also deinen Prozess noch vor dir hast und dich entschieden hast zu schweigen, bedenke, dass deine Angaben gegenüber der Gutachterin im Prozess verwertet werden.
Eine professionelle und unvoreingenommene Gutachterin muss dein Misstrauen akzeptieren und darf dieses nicht zu „deinen Lasten“ werten.
In vielen Fällen ist es eine prozessentscheidende Frage, ob du mit der Gutachterin sprichst oder nicht und was du ihr erzählst. Deswegen solltest du diese Frage auch immer mit deiner Anwältin besprechen, wenn du eine hast.
Aber gerade auch bei Gutachten, die erstattet werden, wenn du schon in Strafhaft/Maßregelvollzug sitzt und es z. B. um die Frage einer vorzeitigen Entlassung oder von Vollzugslockerungen geht, sind Gespräche mit der Gutachterin und das, was aus ihnen gemacht wird, häufig höchst problematisch.
Ein Beispiel dafür ist die Situation von Menschen, die die Tat auch noch nach dem Schuldspruch in Haft bestreiten. Wenn du also unschuldig in Haft sitzt und dabei bleibst, dass du die Tat nicht begangen hast (und du deswegen mit der Gutachterin auch nicht über eine solche Tat reden kannst), dann wirst du ziemlich sicher einen Vermerk in der Akte kassieren, dass du dich nicht mit deiner Tat auseinandersetzt und eine Tataufarbeitung dadurch nicht möglich ist („Tatleugnerin“). Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass eine frühzeitige Entlassung auf Bewährung oder eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug nicht stattfindet.
Aber Vorsicht: Eine Tat einzuräumen, die du nicht begangen hast, und im Nachhinein ein falsches Urteil zu bestätigen, wird nicht nur dazu führen, dass du dich furchtbar fühlst, sondern es ist nicht einmal gesagt, dass du deshalb früher rauskommst. Selbst wenn du deine Tat in gewünschter Weise „aufarbeitest“, können sie dir aus anderen Gründen oder aufgrund von bestimmten Aussagen von dir die vorzeitige Entlassung oder die Vollzugslockerungen verweigern. Und dann sitzt du im Knast und hast etwas gestanden, was du nicht getan hast.
Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen, wie unvorhersehbar die Bewertung deiner Angaben durch die Gutachterin ist:
Frau A. sitzt seit Jahren in der Sicherungsverwahrung und ist auch schon während der ganzen Zeit im Gespräch mit der Gutachterin. Sie macht aus ihrer Sicht große Fortschritte, weil sie sehr ehrlich, offen und zugewandt über ihre Ängste, Probleme und über die Tat spricht. Irgendwann äußert sie, dass sie schon auch Angst vor der Situation draußen habe, weil sie so lange schon nicht mehr frei gewesen sei. Diese Äußerung war schließlich das Hauptargument, auf das die Gutachterin ihre Einschätzung stützte, Frau A. solle noch nicht entlassen werden.
Das Beispiel zeigt, wie widersprüchlich die Anforderungen sind. Einerseits sollst du dich öffnen und ehrlich über Ängste reden. Tust du dies, kann es dir genauso zum Verhängnis werden.
Es ist deswegen nicht möglich, hier pauschal zu einem bestimmten Verhalten gegenüber den Gutachterinnen zu raten.
Wenn du dich dafür entschieden hast, mit der Gutachterin zu sprechen, musst du jedenfalls immer an das denken, was auch schon oben gesagt wurde:
In einem Gutachten liegt – insbesondere auch bei Begutachtungen zur Schuldfähigkeit vor dem Prozess oder währenddessen – immer auch die Gefahr der Psychiatrisierung, also einer Unterbringung nach §§ 63, 64, 66 StGB, denn wenn du der Gutachterin etwas erzählst, worin sie Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung/Sucht zu erkennen meint, kann dies zur Folge haben, dass du neben einer Strafe noch in den Maßregelvollzug eingewiesen wirst.
Und selbst wenn das in dem Moment nicht passiert, können solche Gutachten dir auch noch in der Zukunft Probleme machen. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn du in einem Gutachten nach § 21 StGB für vermindert schuldfähig erklärt wurdest und dir später erneut eine Tat vorgeworfen wird, bei der du ebenfalls vermindert schuldfähig warst, und frühere Urteile, einschließlich der erstatteten Gutachten, dem Gericht und der aktuellen Gutachterin zur Kenntnis gelangen. Wenn so etwas passiert, rückt die Einweisung in den Maßregelvollzug näher, jedenfalls dann, wenn es sich bei der früheren Tat nicht lediglich um geringfügige Straftaten handelt.
Zum Schluss noch ein persönlicher Bericht eines Gefangenen zum Umgang mit der Knastpsychologie:
Die Begegnung mit der Psychologin
Besonders im Jugendstrafvollzug wird ein Ausweichen schwer möglich sein. Dort kann man auch auf die Psychologin stoßen, die aus dem Leben eines Menschen, der ihr ausgeliefert ist, ein Muster von negativen Bewertungen macht, die dann von der Jugendlichen übernommen werden und zu Richtlinien ihres Verhaltens auswachsen. Diese negativen Bewertungen wird die Jugendliche dann vielleicht ihr ganzes Leben lang mitschleppen. Wenn du merkst, dass du es mit einem solchen Menschen zu tun hast, solltest du versuchen, ihr, wo es nur möglich ist, auszuweichen und eine Mitarbeit an deiner Bewertung zu verweigern. Wenn es nicht möglich ist, die Psychologin zu umgehen, dann wenigstens noch der dringende Rat: sie nicht ernst nehmen! D. h. die Ergebnisse von irgendwelchen Tests oder die Behauptungen in ihrem Gutachten nicht für sich anerkennen. Dort heißt es oft, dass man abartig sei, unnormal, minderwertig. Lass dich von den in wissenschaftliche Begriffe gekleideten Beleidigungen nicht beeindrucken – sie sind eben so viel wert wie Beleidigungen sonst auch, nämlich nichts! Das Einzige, was sie von den Beschimpfungen anderer unterscheidet, ist ihre „wissenschaftliche“ Sprache, mit der es sich aber noch empfindlicher beleidigen lässt. Denn sie wird einerseits ernst genommen und enthält gleichzeitig die unverschämtesten Herabsetzungen. Wenn sie dir damit kommen, versuche dir klar zu werden, dass man immer genau so ist, wie man in seiner sozialen Umgebung am zweckmäßigsten aufgewachsen ist und sich auch zweckmäßig verhält. Und es ist dein Recht, darauf zu bestehen, dass du „ideal“ für dein Leben bist wie andere für ihres. Niemand ist dir überlegen. Höchstens kann man dir sagen, dass die Umgebung deines Lebens verändert werden muss. Aber man kann dir nicht vorwerfen, dass du nicht jemand anderes bist. Wenn du jemand anderes wärst, würdest du der Umgebung deines Lebens gar nicht entsprechen und nicht mehr damit zurechtkommen. Das heißt natürlich nicht, dass ein Mensch nicht in der Lage ist, sich zu ändern. Aber dafür ist die Knastpsychologin in den meisten Fällen eine ungeeignete Ratgeberin – denn sie will genauso wie die Sozialarbeiterin alle deine Probleme zu etwas umwandeln, das sich im Sinne der staatlichen Zweckmäßigkeit (und damit der Herrschenden) „lösen“ lässt. Wenn sie etwas an dir auszusetzen hat, dann ist das ihre Parteilichkeit, die mit ihrer Funktion als eine staatliche Korrektorin der Seelen zu tun hat. Hast du das Gefühl, dass deine Gutachterin auf diese Weise auf dich Einfluss nehmen und dich verändern will, solltest du versuchen, ihr so formal korrekt wie möglich entgegenzutreten und so wenig wie möglich davon preiszugeben, wie es in deinem „Inneren“ tatsächlich aussieht.
20.6. Kann ich mich weigern,
begutachtet zu werden?
Ja. Niemand kann dich zwingen, mit der Gutachterin zu sprechen. Allerdings wird dann in solchen Fällen „nach Lage der Akten“ entschieden. D. h., wenn du dich grundsätzlich weigerst, an der Erstellung eines Gutachtens oder einer psychologischen Stellungnahme aktiv mitzuwirken, wird dieses aus der bisherigen Aktenlage und den Informationen, die sie aus anderen Quellen über dich gewonnen haben, erstellt (Ferngutachten). Sie können hier auch Gutachten oder Urteile von früheren Verfahren heranziehen.In Ausnahmefällen wird auch versucht, Informationen von beteiligten Personen (Eltern, Freundinnen, Personen, die in früheren Gutachten über dich auftauchen, usw.) einzuholen. In diesem Fall solltest du diese vorwarnen. Während des Prozesses kann es auch passieren, dass die Gutachterin – falls es mehrere Tatbeteiligte gab – über die anderen erstellte Gutachten einfach auf dich überträgt und sich diesen anschließt. Ob ein solches Ferngutachten besser ist, als an der eigenen Begutachtung mitzuarbeiten, ist eine Frage des Einzelfalls, die du mit deiner Verteidigerin besprechen solltest.
20.7. Gutachten- und
Prognoseinstrumente
Um ihren Entscheidungen den Anschein der wissenschaftlichen Fundierung zu geben, ziehen Gerichte und Anstalten immer öfter Gutachten heran, die auf neu etablierten sogenannten „Prognoseinstrumenten“ (PCL-R, HCR-20, Dittmann-Liste, MIVEA usw.) beruhen. Diese sollen helfen, das Verhalten der Betroffenen gegebenenfalls unter die diagnostischen Klassifikationssysteme ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und DSM-V (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) einzuordnen. Diese beiden Klassifikationssysteme nennen abschließend alles, was offiziell als „Krankheit“ anerkannt ist.
Wenn du mit so etwas während des Prozesses konfrontiert wirst, musst du immer im Kopf behalten, dass diese sogenannten „Prognoseinstrumente“ und „Klassifikationssysteme“ auch in der Wissenschaft hoch umstritten sind und dass ihre Ergebnisse überhaupt nichts über deinen psychischen Zustand aussagen müssen. Auch und gerade diese Instrumente sind Produkte bestimmter Interessengruppen, die die Gesellschaft und das Leben der Menschen nach einem bestimmten Bild formen wollen und auf solchen Wegen ihre Macht ausüben und vor allem auch viel Geld daran verdienen (Pharmaindustrie!).
Wie willkürlich und bestimmt durch politische Interessen diese Einordnungen in bestimmte „Krankheitskategorien“ sind, zeigt sich an vielen Stellen. So ist Homosexualität beispielsweise erst 1992 von der ICD-8 Liste psychischer Erkrankungen gestrichen worden; während man es früher als völlig selbstverständlich angesehen hat, wenn Menschen ein Jahr um den Tod eines geliebten Menschen trauerten, gilt man heute schon nach vier Wochen tiefer Trauer als depressiv und wird mit entsprechenden Medikamenten versorgt.
Wer oder was gibt den Leuten, die dafür verantwortlich sind, das Recht, darüber zu entscheiden, was „krank“ oder „gesund“, wer „normal“ oder „nicht normal“ ist? Wehre dich dagegen, wenn sie dich dazu bringen wollen, ihre Maßstäbe und ihre Vorstellungen davon, wie man zu leben hat, zu deinen eigenen zu machen.
Da es aber leider in unserer Gesellschaft Realität ist, dass man sich als Angeklagte oder Gefangene (und auch draußen) mit diesen Dingen auseinandersetzen muss, sollte man sich trotz und gerade wegen des oben Gesagten mit den angewandten Methoden auseinandersetzen und sehr genau hinschauen, ob wenigstens die geltenden Regeln eingehalten werden.
Eine solche Diagnostik findet anhand der Anwendung von standardisierten Fragebögen und Checklisten statt. Für die Anwendung dieser Instrumente und die entsprechend korrekte Erstellung eines Gutachtens gibt es mittlerweile durch das BVerfG und die Obergerichte festgesetzte Mindeststandards, die von den Gutachterinnen eingehalten werden müssen (eine Formulierung solcher Mindeststandards findest du in der NStZ [Neue Zeitschrift für Strafrecht] 2006, S. 537).
Oftmals wird außerdem vorausgesetzt, dass sich die Gutachterinnen einer Schulung zur Anwendung dieser Instrumente unterziehen, die kostenintensiv sein kann. Nicht immer haben die Gutachterinnen eine solche Schulung durchlaufen und wenden dennoch ohne entsprechende Qualifikation diese Instrumente an. Ein psychiatrischer Sachverständiger aus Berlin schätzte 2012, dass 60 % derjenigen, die mit diesen Prognoseinstrumenten arbeiten, nicht dafür ausgebildet sind. Wenn du mitbekommst, dass dies bei deiner Gutachterin der Fall ist oder das Gutachten die Mindeststandards nicht erfüllt, solltest du das (jedenfalls dann, wenn die Gutachterin bzw. das Gutachten dir nicht passt) nach Absprache mit deiner Verteidigerin dem Gericht mitteilen.
Falls du dich näher mit dem Thema Prognoseinstrumente/-verfahren beschäftigen möchtest, kannst du dir das „Handbuch kriminalprognostischer Verfahren“ (siehe Anhang) besorgen. Sprich auch ruhig deine Verteidigerin darauf an, ob sie dieses Buch kennt:
(Martin Rettenberger / Fritjof von Franqué [Hrsg.], Handbuch kriminalprognostischer Verfahren, Göttingen et al. [Hogrefe] 2013)
Wie bei der Erstellung eines solchen Gutachtens vorgegangen wird, wollen wir jetzt anhand eines Schuldunfähigkeitsgutachtens einmal beispielhaft darstellen:
Bei Erstellung eines Schuldfähigkeitsgutachtens (also für die Frage, ob die Voraussetzungen von §§ 20, 21 StGB vorliegen) wird zunächst geprüft, ob eine Diagnose nach den oben genannten Klassifikationssystemen gestellt werden kann. Kommt die Gutachterin zu dem Schluss, dass eine Krankheit im Sinne des Klassifikationssystems vorliegt, ist damit jedoch noch nichts über die Auswirkungen dieser Krankheit auf deine Schuldfähigkeit bei der Tat gesagt. In einem nächsten Schritt muss daher untersucht werden, ob die festgestellte Erkrankung die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Betroffenen so beeinflusst hat, dass daraus Schlüsse auf eine eingeschränkte oder ausgeschlossene Schuldfähigkeit zu ziehen sind.
Für die Anforderungen an ein Schuldfähigkeitsgutachten hat eine Arbeitsgruppe von Juristinnen und Gutachterinnen Mindeststandards empfohlen. Danach muss das Gutachten nachvollziehbar und transparent sein und folgende Angaben enthalten:
Auflistung aus: Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten in: NStZ 2005, S. 57-62
20.8. Fehlerhafte Gutachten
Es wurde bereits ausführlich beschrieben, dass jedes psychologische Gutachten extrem problematisch ist und in den wenigsten Fällen der begutachteten Person gerecht wird oder ihre Situation richtig wiedergibt.
An dieser Stelle gehen wir noch einmal besonders auf die Gutachten ein, in denen sogenannte Prognoseentscheidungen getroffen werden, da diese – vor allem in Strafhaft – besonders häufig und extrem fehleranfällig sind. Bei solchen Prognoseentscheidungen wird untersucht, wie wahrscheinlich es ist, dass ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Situation in Zukunft eintreten wird. Dass hier häufig eine falsche Einschätzung abgegeben wird, ist keine Überraschung und wird auch in der Fachwelt sehr kritisch diskutiert.
Besonders problematisch sind die Gutachten, in denen die Gutachterin z. B. im Rahmen der Frage, ob eine frühzeitige Haftentlassung möglich ist, darüber entscheiden soll, ob die Gefangene als rückfallgefährdet anzusehen ist. Wenn die Gutachterin von einer Rückfallwahrscheinlichkeit ausgeht – und deswegen von einer vorzeitigen Haftentlassung abrät –, wird nie überprüft werden können, ob die Person tatsächlich rückfällig geworden wäre oder ob es sich um eine sogenannte „Falsch-Positive“, d. h. eine Person handelt, bei der die Prognoseentscheidung falsch war. Der Fehler der Gutachterin wird dann also in diesen Fällen nicht einmal als solcher bemerkt, weil die Betroffene weiter im Knast sitzt und nicht das Gegenteil beweisen kann.
Diejenigen, die als nicht rückfallgefährdet eingestuft werden, aber dann doch rückfällig werden (sogenannte Falsch-Negative), sind wenige. Das liegt vor allem daran, dass die Gutachterinnen sehr zurückhaltend mit positiven Gutachten sind und tendenziell eher „Falsch-Positive“ als „Falsch-Negative“ in Kauf nehmen, weil eben bei den „Falsch-Positiven“ ihre Entscheidungen nicht überprüft werden können und sie damit nicht Gefahr laufen, für ihre fehlerhafte Einschätzung (die sich nur im Fall von „Falsch-Negativen“ zeigt) kritisiert zu werden. Hier spielen dann auch die Medien (BILD und Co) eine wichtige Rolle, die mit ihren Hetzkampanien gegen den zu weichen Umgang des Staates mit den „Kriminellen“ der Gesellschaft die Angst der Gutachterinnen vor Fehlentscheidungen noch größer werden lässt.
Ganz besonders kritisch wird es deswegen, wenn es sich bei der Gutachterin um einen eher vorsichtigen, ängstlichen Menschen handelt, der ständig Angst hat, Fehler zu machen. Dieser wird dann im Zweifel eher sagen, dass eine Rückfallgefahr besteht und deswegen eine frühzeitige Entlassung nicht möglich ist.
Dass dies eine absurde Entwicklung ist, der entgegengewirkt werden muss, zeigen auch die Forschungsergebnisse einer Studie der Ruhr-Universität. Dort wurde im Rahmen einer Doktorarbeit über nachträgliche Sicherungsverwahrung nachgewiesen, dass von 67 als extrem rückfallgefährdet eingestuften Gefangenen, die dennoch aus Rechtsgründen entlassen wurden, nach drei Jahren 23 von ihnen rückfällig geworden sind, davon nur 3 mit einem schweren Delikt (unter 5 %). Daraus kann gefolgert werden, dass auf einen zu Recht in Haft Verwahrten 20 zu Unrecht Verwahrte kommen.
Zu der Funktion sogenannter Prognosegutachten heißt es in diesem Buch:
„Rückfallstudien aus aller Welt, auch aus Deutschland, zeigen, dass auch bei Verbesserung der Qualität von Prognosegutachten die Gefährlichkeit von Haftentlassenen weit überschätzt wird. Die Gutachter sind aufgefordert, sich geschlossen dagegen zu wehren, immer umfassender die Verantwortung dafür übertragen zu bekommen, möglichst jegliches Risiko erneuter Delinquenz von der Gesellschaft fernzuhalten. Dann könnten sie wieder die Grenzen der Kriminalprognose deutlicher herausstellen, statt den Eindruck zu verstärken, menschliches Verhalten könne mit großer Genauigkeit vorhergesagt werden.“
Mit einer fundierten Auseinandersetzung und Kritik an den fertiggestellten Gutachten sind Gefangene, aber auch häufig Juristinnen, überfordert. Dies liegt schon alleine an der – wenn auch nur scheinbaren – fachlichen Überlegenheit und – ebenfalls fraglichen – Neutralität der Gutachterinnen. Je gewichtiger die anstehende Entscheidung ist, desto wichtiger ist deswegen die Einwirkung im Vorfeld bei der Auswahl der Gutachterin durch dich und deine Verteidigerin. Merkst du, dass deine Verteidigerin sich gar nicht um das Thema kümmert oder keine Ahnung von den in deinem Gerichtsbezirk möglichen Gutachterinnen hat, ist das ein Grund, sich nach einer neuen Verteidigerin umzuschauen.
20.9. Abschließende Hinweise
Wie sich aus dem oben Stehenden ergibt, handelt es sich bei Gutachten um häufige und als Betroffene schwer zu beeinflussende bzw. zu kontrollierende Fehlerquellen, die zu falschen Entscheidungen der Gerichte oder der Anstalten führen und außerdem einen Eindruck in dir, über dich, hinterlassen können, der oft nicht zutreffend und vor allem nicht leicht zu verarbeiten ist. Daraus könnten nun so manche schließen, dass sie jegliche Zusammenarbeit mit Gutachterinnen und Psychologinnen ablehnen sollten. Einen solchen pauschalen Ratschlag können wir aber nicht geben. So wie sich ein Gutachten, das von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgeht, positiv auf das Strafmaß auswirken kann, ohne dass gleich für die Zukunft eine Unterbringung im Maßregelvollzug zu befürchten ist, so kann auch der Kontakt zu Psychologinnen im Strafvollzug für die Einzelne hilfreich sein. Es kann sich lohnen, erstmal zu gucken, wer dort tätig ist und wie man sich im Gespräch mit dieser Person fühlt, bevor man jeglichen Kontakt ausschließt.
Entscheidest du dich zu einer Inanspruchnahme/Zusammenarbeit, versuche immer nach jedem Gespräch die Inhalte aufzuschreiben, also alles zu dokumentieren. Dies gilt ganz besonders, wenn dir etwas an dem Gespräch falsch vorkommt. Aber auch wenn es gut verlaufen ist, lohnt sich die Dokumentation, weil du für den Fall, dass später etwas dein Misstrauen weckt, deine Aufzeichnungen nochmal durchgehen kannst und in ihnen vielleicht noch weitere Informationen findest, die dir helfen, deinen Eindruck zu belegen.
Entscheidest du dich gegen eine Zusammenarbeit, ist es ratsam, sich der Behandlung nicht wortlos zu entziehen, sondern zu erklären, dass die Psychiaterin/Psychologin dein Vertrauen nicht hat und dass du deswegen die Untersuchung verweigerst. Das ist auch die einzige Verhaltensmöglichkeit, bei der sie deine Weigerung nicht als „Symptom“ deines psychischen Zustandes bewerten können. Gutachterinnen, Ärztinnen und auch Psychologinnen werden sehr schnell bereit sein, deinen Fall wieder abzugeben, wenn du ihnen erklärst, dass sie dein Vertrauen nicht haben.
Egal wofür du dich entscheidest – das Wichtigste ist, dass du im Umgang mit den Gutachterinnen und Psychologinnen die Gefahren, die hier dargelegt wurden, immer im Hinterkopf behältst.
21.
Was mensch im Rechtsstreit mit der Justiz beachten muss
Das Wichtigste ist, dass man sich keine Illusionen macht: Die Erfolgsaussichten im Rechtsstreit mit der Justiz sind äußerst gering. So haben wohl ungefähr ein bis fünf Prozent der 109er-Anträge Erfolg. Die vielfältigen Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe sind für eine Ahnungslose zunächst recht eindrucksvoll. Die, die sie benutzen sollen, erschlagen sie jedoch gerade wegen ihrer verwirrenden Vielfalt und bürokratischen Kompliziertheit. Wer sich dennoch durch den Paragraphendschungel durchkämpft, gibt meist ebenfalls bald auf, wenn sie merkt, dass sie nicht zu ihrem „Recht“ kommt, dafür aber viel von ihrem Stolz aufgibt. Versuchst du trotzdem, zu deinem Recht zu kommen, so wirst du auch noch als Querulantin bezeichnet. In Einzelfällen kann man überraschende kleine „Erfolge“ erzielen, die aber nicht über die allgemeine Situation in der Rechtspraxis für dich als Gefangene hinwegtäuschen können.
Bei alledem solltest du bedenken: Sobald du dich auf die Ebene der Juristerei begibst, bist du nicht diejenige, die die Gesetze macht und „Recht“ spricht – du wirst also in juristischen Auseinandersetzungen immer unterlegen sein. Die Sprache der Justiz ist nicht deine Sprache.
21.1. Die grundsätzliche Frage
Eine grundsätzliche Überlegung solltest du also voranstellen, wenn du überlegst, gegen dir widerfahrenes Unrecht seitens des Knastes vorzugehen:
Die allermeisten Gefangenen wehren sich gegen Maßnahmen der Anstalt nicht, zumindest nicht mit offiziell vorgesehenen – gerichtlichen – Verfahren.
Viele machen überhaupt nichts. Viele gehen den informellen, formlosen Weg – wozu auch viele Anwältinnen raten. Wenn sie etwas erreichen wollen, sprechen sie mit den Gruppenbetreuerinnen oder schreiben einfach einen neuen Vormelder.
Das bedeutet, dass Gefangene, die nicht bereit sind, all die alltäglichen Gemeinheiten auf sich sitzen zu lassen, schnell als „Querulantinnen“ bei den Bediensteten verschrien sind. Die Rache folgt dann auf dem Fuße: Du bekommst von denen noch weniger Spielraum, wirst schikaniert, dir werden weitere Sachen verweigert und Rechte genommen.
Was folgt, könnte man als Teufelskreis bezeichnen: Du musst dich ja dann noch mehr zur Wehr setzen, was dazu führt, dass dich irgendwann auch die Anstaltsleitung und die Strafvollstreckungskammer kennen und dir auch nicht eben wohlgesonnen sind.
Dennoch haben wir hier ein ausführliches Kapitel zu Rechtsmitteln. Unserer Ansicht nach gibt es auch gute Gründe, es den Knästen nicht zu leicht zu machen und für unsere Rechte zu kämpfen.
Denn der Kampf für die eigenen Rechte bedeutet auch, die eigene Würde zu behalten, selbst Mensch zu bleiben und sich nicht hin und her schubsen zu lassen, wie es denen gerade passt. Denn das Gefährliche am Knast ist ja gerade, dass sie dich als Mensch zerstören, dir deinen Geist wegnehmen.
Je mehr Gefangene nicht mehr bereit sind, die ganze Willkür auf sich sitzen zu lassen, desto schwieriger ist es für sie, einzelne Gefangene als Querulantinnen zu brandmarken.
21.2. Die juristische Sprache und das
juristische Denken
Als Gefangene bist du in den Händen der Justiz. Das bedeutet, du bist für die Durchsetzung deiner Bedürfnisse darauf angewiesen, auf Jura-Deutsch zu reden und zu schreiben. Diese Sprache zu gebrauchen ist nicht nur deshalb problematisch, weil Rechtsmittel in Haft statistisch meistens erfolglos sind. Du wirst im Knast gezwungen, ein Leben zu leben, was nicht deins ist. Deine tatsächlichen Bedürfnisse, Wünsche oder Gefühle zählen nicht für die Justiz, sondern nur das, was in irgendwelchen Paragraphen und Vorschriften steht. D. h., du musst dir Gründe überlegen, die nicht deine eigenen sind. Denn mit deinen eigenen würdest du nicht weit kommen. Ein bisschen wird es dich mit Sicherheit verändern, aber es ist wichtig, einen gesunden Abstand zu dieser Sprache zu wahren.
Die Gefahr ist nämlich, dass du irgendwann nicht mehr von dir selbst ausgehst, sondern von deinem „Recht“. Aber Sprache und Leben sind nichts Getrenntes. Über die erzwungene Änderung der Sprache ändert sich auch das eigene Denken. Eine Gefangene, die in der juristischen Sprache zu denken begonnen hat, hat den Knast endgültig in sich aufgenommen.
Versuche immer im Kopf zu behalten, dass diese Sprache nur ein künstliches Instrument ist und nicht du selbst, wenn du den Weg der juristischen Auseinandersetzung wählen willst.
21.3. Was kannst du im Rechtsmittelteil finden?
Wir haben versucht, so verständlich wie uns möglich die wichtigsten juristischen Kenntnisse zu vermitteln, die man dafür braucht. Jeweils für U-Haft und Strafhaft geben wir einen allgemeinen Überblick:
Wir führen das dann an einem Musterbeispiel vor. Danach gibt es jeweils eine Zusammenstellung einiger juristischer Musterbegründungen für häufige Situationen im Knast, gegen die du rechtlich vorgehen kannst. Nach den Teilen über U-Haft (→ Kapitel 23 Rechtsmittel in der Untersuchungshaft) und Strafhaft (→ Kapitel 24 Rechtsmittel in der Strafhaft) beschreiben wir die juristischen Wege und Probleme, die sowohl für U-Haft als auch für Strafhaft gelten:
Zunächst jedoch noch einige allgemeine Hinweise:
21.4. Worauf man beim Schreiben von
Rechtsmitteln achten sollte
Anträge, Beschwerden usw. – Privatbriefe natürlich auch – werden meist morgens der sogenannten Kaffeebeamtin beim Frühstücksempfang mitgegeben. D. h., man sollte seine Schriftstücke bis dahin fertig und im Begleitumschlag haben. Von allen Schreiben mindestens einen Durchschlag machen, damit man sich darauf beziehen kann. Bei Fristsachen – zum Beispiel bei einer Ausweisung –, die von den Anstalten manchmal verzögert werden, sollte man auf den Durchschlag einen Zusatz schreiben: „Hiermit bestätige ich, das Schreiben an die Strafvollzugskammer der Frau ... am ... zur Weiterleitung in Empfang genommen zu haben.“ Diesen Zusatz sollte die „Kaffeebeamtin“ unterschreiben, was sie allerdings in den seltensten(!) Fällen machen wird. Lasst euch dann die Abgabe des Briefes von einer oder mehreren Gefangenen als Zeuginnen bestätigen. In manchen Anstalten gibt es auch sogenannte Fristzettel, auf denen von der Stationsbeamtin die genaue Annahmezeit eingetragen wird. Dieser Zettel kommt dann in die Personalakte. Das ist kein Nachteil. Besteht auf der Ausfüllung eines solchen Fristzettels! Wenn es ganz dringend und wichtig ist, sendet den Brief per Einschreiben (mit Rückschein) weg. Das ist zwar teuer, aber auch „fristsicher“. Macht am besten noch zusätzlich in den Kalender einen Vermerk, was wann abgeschickt wurde, damit ihr dann das Nachhaken nicht so schnell vergesst. Solltest du kein Geld auf dem Konto haben, also mittellos sein, versuche erstmal, die „offiziellen“ Briefe unfrankiert abzugeben. Meist werden sie sich unverständig zeigen, so dass du erst mit der Sozialarbeiterin sprechen musst, bevor die JVA deine Portokosten übernimmt. „Schreibkundige“ Gefangene sollten anderen, die mit dem Abfassen von Schreiben Schwierigkeiten haben, helfen. Besonders bei „Ausländerinnen“ ist das wichtig, da sie meistens noch nicht mal die ankommenden Behörden- und Gerichtsbriefe verstehen. Außerdem sollten Gefangene sich gegenseitig bei Dienstaufsichtsbeschwerden, allgemeinen Beschwerden, Strafanzeigen usw. bezeugen, dass die z. B. gegen Knastbeamtinnen erhobenen Beschuldigungen richtig sind. Anstalt, Aufsichtsbehörde und Gerichte können dann nicht so leicht behaupten, dass die Behauptungen der Gefangenen erlogen sind. Macht es denen also ruhig gemeinsam schwer! Versucht bei Beschwerden, Dienstaufsichtsbeschwerden usw. so sachlich wie möglich zu bleiben, denn bei offensichtlichen Beleidigungen gegen Richterinnen und Wärterinnen – wie zum Beispiel „Arschloch“, „Faschistin“ – wandert der Schrieb sofort in den Papierkorb und wird nicht bearbeitet. Außerdem darf man nur in eigener Sache schreiben – außer bei Petitionen –, d. h., du darfst dich z. B. nicht in deinem Namen für andere beschweren. Allerdings sind Dritte dann antragsberechtigt, wenn sie von einer Maßnahme gegen dich mitbetroffen sind: z. B. Angehörige draußen, deren Brief an dich von der Anstalt angehalten wurde, und Freundinnen, denen die Besuchserlaubnis verweigert wurde. Bist du noch minderjährig – also unter 18 –, so kann auch deine gesetzliche Vertreterin für dich eine Beschwerde schreiben.
21.5. Wo ist die Haft rechtlich geregelt?
2006 wurde die Regelung der Haft bei der Föderalismusreform an die einzelnen Bundesländer verteilt, die dabei das Interesse hatten, möglichst Geld zu sparen. Das sieht man den einzelnen neuen Gesetzen leider auch an. Z. B. wird auch in U-Haft kaum mehr eine (teure) Richterin mit deiner Sache befasst, sondern nur noch der Knast selbst. Es gibt also jetzt in jedem Bundesland ein eigenes Vollzugsgesetz (U-Haft und Strafhaft). Das Einzige, was in ganz Deutschland noch gleich ist, ist der Teil zu den Rechtsmitteln – in U-Haft die Strafprozessordnung, in Strafhaft die §§ 109–121 Strafvollzugsgesetz (Bund) –, die weiter gelten.
Wir haben uns in den Kapiteln, in denen es darauf ankommt, dafür entschieden, die Gesetze aus Nordrhein-Westfalen zu benutzen, weil es ansonsten den Rahmen des Buches gesprengt hätte. Wenn du in einem anderen Bundesland sitzt, kannst du hinten im Buch unter „Synopse“ nachgucken, welcher Paragraph deines Bundeslandes dem in NRW entspricht (oder ähnlich ist):
Sonderregelungen für Jugendliche:
Allgemeine Regelungen für alle Vollzugsarten:
22.
Das Verhältnis zu
deiner Rechtsanwältin und die Prozess-
vorbereitung
Wie man sich bei der Festnahme, Vernehmung und vor der Haftrichterin verhält, ist oben (→Kapitel 1 Die Festnahme) schon näher beschrieben. Im Folgenden wird zunächst darauf eingegangen, welche Rolle die Anwältin in der Situation der Prozessvorbereitung spielt.
Wann kann ich eine Anwältin verlangen?
Theoretisch-juristisch hat jede Bürgerin zu jeder Zeit das Recht, sich einer Anwältin zu bedienen (§ 137 Strafprozessordnung (StPO)). In der Wirklichkeit hat sich jedoch als spätester Zeitpunkt die Begegnung mit der Richterin eingependelt – also der Zeitpunkt, in dem entschieden wird, ob ein Haftbefehl erlassen wird oder nicht. Wichtig ist nur, dass man – bevor man mit einer Anwältin gesprochen hat – auf gar keinen Fall irgendeine Aussage macht, die über die notwendigen Angaben zur Person hinausgeht. Wenn man nichts sagt, hat man auch mehr Chancen, eine Anwältin zu bekommen, insbesondere dann, wenn man sein Schweigen damit begründet, dass man keine Anwältin hat. Also von der ersten Sekunde an eine Anwältin verlangen. Solange ich zu dieser keinen Kontakt habe, rede ich kein Wort. Wahrscheinlich wird diese in den meisten Fällen dazu raten, weiter zu schweigen, bis sie die Ermittlungsakten bekommen hat. Und das ist in aller Regel auch richtig: Denn nur wenn man den Akteninhalt kennt, weiß man, wie die Beweislage tatsächlich aussieht. Sonst sagst du unter Umständen was, was du für ganz harmlos hältst, und in Wirklichkeit macht genau das den Sack zu, um dir Tatbegehung oder -beteiligung nachzuweisen, was sonst vielleicht gar nicht möglich gewesen wäre. Spätestens wenn dir der Haftbefehl verkündet wurde und die Richterin anordnet, dass du tatsächlich für dieses Verfahren in U-Haft bleiben musst, musst du eine Anwältin benennen oder um eine Frist dazu bitten und die dann auch einhalten. Denn jetzt liegt ein sogenannter Fall notwendiger Verteidigung vor (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO). Wenn du kein Geld hast, selbst eine Anwältin zu bezahlen, musst du jetzt die Anwältin deines Vertrauens benennen (und die wird dir dann als notwendige Verteidigerin beigeordnet) oder du bekommst irgendeine!
Welche Anwältin wähle ich?
Man sollte sich im Klaren sein, dass die meisten Anwältinnen sehr selten aus ihrer Rolle, die sie zu einem Teil der Justiz macht, herauskommen. Eine solche Anwältin ist dann oft Mitwirkende an deiner Verurteilung. Ihr Interesse beschränkt sich auf ihr Geschäft und ihre Karriere. Sie vertritt dich, um an dein Geld oder an die gerichtlichen Bezüge heranzukommen oder um dich für Werbezwecke zu benutzen, wenn du ein „spektakulärer Fall“ bist. Sie wird auf ihre Kosten alles unterlassen, was sie bei der Justiz unbeliebt machen könnte, jede sollte sich eine Anwältin bereits ausgesucht haben und deren vollständigen Namen, Anschrift, Telefonnummer im Kopf haben. Jede sollte also vorher eine Anwältin kennen, der sie vertraut und von der sie verteidigt werden möchte, für den Fall, dass sie in die Hände der Justiz gerät. Dass dies schließlich jedem Menschen passieren kann, sollte eigentlich mittlerweile allgemein bekannt sein. Man könnte es fast mit einer Krankheit vergleichen: Bei der Wahl einer Ärztin verhält man sich schließlich genauso. Man lässt sich schon vorher jemanden von Freundinnen empfehlen. Bei dieser Anwältin sollte möglichst bereits eine „Blankovollmacht“ von dir liegen. Das heißt: Für den Fall, dass du in die Justizmühle gerätst, besitzt deine Anwältin bereits automatisch dein Mandat, was dir einiges an Zeit und Ärger erspart. Die Blankovollmacht wird von der Justiz gerne beanstandet, obwohl sie juristisch in keinster Weise zu beanstanden ist. Sie wird nur bekämpft, weil sie den Ermittlungsorganen und der Justiz hinderlich ist. Wenn man keine Anwältin kennt, der man vertraut, wird man sich auf Tipps verlassen müssen, die man von Mitgefangenen in der Haftanstalt bekommen kann. Diese Tipps im Knast sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, denn es kommt öfter mal vor, dass bestimmte Anwältinnen völlig unberechtigt in Mode sind. Bestimmte Anwältinnen lassen sich über Knastbeamtinnen oder auch bereits über Polizeibeamtinnen weiterempfehlen. Mit solchen Anwältinnen sind schon häufig üble Erfahrungen gemacht worden. Informationen, die über das Branchenverzeichnis des Telefonbuchs und Tipps von Mitgefangenen hinausgehen, sind im Knast sehr schwer zu bekommen. Oft ist es auch so, dass man im Knast einen Prozessbericht aus einer Zeitung in die Hand bekommt, wo der Name einer Verteidigerin erwähnt ist, an die man sich dann wenden kann. Auch das ist mit Sicherheit kein unfehlbarer Tipp, aber man kann eine solche Anwältin, die im Knast einen gewissen Ruf hat, anschreiben und um eine Besprechung bitten. Dazu bekommst du in manchen Knästen schon vorgedruckte Karten: „... bittet um Ihren Besuch ... Ich befinde mich in U-Haft und würde zwecks Verteidigung gerne mit Ihnen sprechen ...“. Die angeschriebene Anwältin wird dich dann besuchen. Du musst jedoch damit rechnen, dass es eine Woche oder länger dauert, bis sie bei dir auftaucht. Das kann so sein, es kann aber auch deutlich schneller gehen. Gute Anwältinnen sind normalerweise sehr darauf bedacht, dich so schnell wie möglich zu besuchen. Mit dem ersten Besuch hat die Anwältin noch kein Mandat automatisch übernommen. Das „Anbahnungsgespräch“ wird somit von dem „Verbot der Mehrfachverteidigung" nicht berührt. D. h., die Anwältin kann nach dem Besuch auch eine andere Beschuldigte in demselben Verfahren vertreten, solange sie von dir noch keine Vollmacht bekommen hat. Wenn sie dir nicht passt, dann schicke sie wieder weg und schreibe die nächste an. Wenn du merkst, dass sie kein Interesse oder keine Zeit hat, so bitte sie, dir eine oder mehrere andere Kolleginnen zu empfehlen. Natürlich kannst du auch Freundinnen oder eine Knastgruppe bitten, dir eine Anwältin zu vermitteln. Willst du als Frau von einer Rechtsanwältin vertreten werden, so kannst du versuchen, dir von einer Frauengruppe eine Anwältin vermitteln zu lassen. Du findest im Adressenteil im Anhang dieses Buches ein Verzeichnis von Rechtsanwältinnen, die uns von Gefangenen und anderen empfohlen worden sind.
Was kann ich von meiner Anwältin verlangen?
Sicher keine Wunder. Aber sie muss dich umfassend beraten und verteidigen und das Möglichste tun. Sie soll dich in die Prozessvorbereitung miteinbeziehen und nichts unternehmen, was nicht mit dir abgesprochen ist (auf die Prozessvorbereitung wird unten noch näher eingegangen). Daneben sollte sie sich auch um deine Haftbedingungen kümmern. Also gegebenenfalls Dienstaufsichtsbeschwerden, Strafanzeigen, Anträge, Beschwerden usw. schreiben. Sie sollte dir auf Wunsch auch erklären, wie du dir selbst juristisch helfen kannst, und dir vielleicht auch die dazu nötigen Materialien verschaffen oder zumindest erklären, wie du sie dir verschaffen kannst. Sie sollte sich auch für deine Gesundheit interessieren und wenn nötig versuchen, dir eine externe Ärztin zur Behandlung zu besorgen oder, wenn das nicht klappt, zumindest eine medizinische Beratung von draußen vermitteln. Sie sollte dich regelmäßig besuchen – nicht erst drei Tage vor dem Prozesstermin. Bist du streng isoliert oder sonstigen besonderen Schikanen ausgesetzt, dann sollten ihre Besuche entsprechend häufiger stattfinden. Ein regelmäßiger Anwältinnenbesuch kann unter Umständen auch einen gewissen Schutz vor allzu unverfrorener Willkür seitens Beamtinnen und Anstalt bieten. Die Grenzen der Hilfe, die man von seiner Anwältin erwarten kann, sind verschieden. Die Anwältin hat berufsrechtliche Verpflichtungen und unterliegt natürlich auch dem Strafrecht. Diese juristischen Bestimmungen sind enorm auslegbar und werden von der Justiz unterschiedlich gehandhabt. Ist ihnen eine Anwältin unangenehm, werden sie viel strenger auf alle Bestimmungen achten als bei einer Anwältin, die bereitwillig mit der Justiz zusammenarbeitet. Jedenfalls kann man verlangen, dass sie all das tut, was sie darf – das soll nicht selbstverständlich sein, wie man hört. Ein Problem ist, dass viele Anwältinnen nicht wissen, was sie dürfen oder nicht dürfen – und häufig weder von dem einen noch dem anderen genug tun. Kurzum: Die Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Also verlange alles, und gib dich nicht zufrieden mit dem, was sie tut, sondern frage, ob sie nicht noch ein bisschen mehr tun kann.
Was tun, wenn ich mit meiner Anwältin nicht klarkomme?
Wenn du den Eindruck hast, dass irgendetwas nicht richtig läuft in deiner Verteidigung, solltest du das der Anwältin in irgendeiner Form mitteilen. Entweder ihr kurz schreiben oder sie um eine Besprechung bitten. Die meisten Anwältinnen werden das dann mit dir diskutieren. Aber es wird sicher auch vorkommen, dass sie ungehalten reagiert. Wenn sie dir den Eindruck vermittelt, man hätte mit der Kritik eine Majestätsbeleidigung begangen, dann sollte man sich wirklich überlegen, ob das die richtige Verteidigerin ist. Hast du den Eindruck, dass deine Anwältin ihren Job darin sieht, der Staatsanwaltschaft in die Hände zu spielen, um selbst einen Vorteil für ihre eigene Karriere, für ihr Ansehen bei Gericht zu erlangen, und betrachtet sie dich nur als Aktenzeichen, das ihr auch noch dankbar dafür sein soll, so schicke sie zum Teufel. Du solltest mit deiner Anwältin ständig diskutieren, ob sie was tut und was sie tut – solidarisch diskutieren. Du wirst dabei von selbst ein Gefühl dafür entwickeln, ob sie ausweicht oder ob sie ehrlich ist. Am schlimmsten sind die, die ständig erzählen, sie tun etwas, und dann in Wirklichkeit nichts tun. Schon aus Selbsterhaltungstrieb sollte man die Anwältin wechseln, wenn man sie nicht mehr aushält. In jedem Fall sollte man versuchen, sich von der Anwältin nicht total abhängig zu machen – und sich bewusst sein, dass man nicht die Einzige ist, um die sich diese Anwältin zu kümmern hat. Das setzt voraus, dass man ihr von Anfang an nicht blind alles überlässt, sondern alle Schritte mit überlegt und selbst entscheidet.
Wer bezahlt die Anwältin?
Normalerweise die Angeklagte selbst. Nur nach einem Freispruch und in manchen Fällen nach einer Einstellung des Verfahrens werden dir die Anwältinnenkosten erstattet. Die Bezahlung ist ein Problem, das du von vornherein mit deiner Anwältin klären musst. Leider ist es oft so, dass die Anwältinnen, denen man vertrauen kann, nicht unbedingt zu der Sorte gehören, die in ihrem Beruf sehr reich werden. Nur in den wenigsten Fällen wird eine Anwältin bereit sein, ohne irgendeine Aussicht auf eine Honorierung oder einen Honorarvorschuss irgendetwas zu unternehmen. Wenn du kein Geld hast oder auftreiben kannst, bist du auf die Pflichtverteidigerin angewiesen, die dir gleich nach deiner Inhaftierung beigeordnet (im Juristendeutsch: zur Pflichtverteidigerin bestellt) wurde, die dann zunächst vom Gericht bezahlt wird. Wichtig ist deshalb immer, eine Verteidigerin der eigenen Wahl als Pflichtverteidigerin vorzuschlagen. Es steht in jedem Kommentar zur StPO, dass das Gericht einen solchen Vorschlag berücksichtigen soll. Man sollte unter allen Umständen versuchen, dies dem Gericht gegenüber durchzusetzen – normalerweise klappt das auch. Du musst nur darauf achten, dass dir das Gericht im Normalfall eine Frist von einer Woche setzt, selbst eine Verteidigerin deines Vertrauens zu benennen.
Die „von Amts wegen“ bestellte Pflichtverteidigerin
Ist es dir nicht rechtzeitig gelungen, eine Verteidigerin deines Vertrauens zu finden, handelt es sich, wenn du für dieses Verfahren in U-Haft bist, immer um einen Fall „notwendiger Verteidigung“, und so wählt das Gericht selbst eine Pflichtverteidigerin für dich aus: Bei solchen von Amts wegen bestellten Pflichtverteidigerinnen musst du prinzipiell vorsichtig sein. Als Pflichtverteidigerin werden nämlich häufig solche bestellt, die dem Gericht angenehm sind. Und dem Gericht sind sie nur dann angenehm, wenn sie ihm keine Schwierigkeiten machen. Du kannst also davon ausgehen, dass eine solche Verteidigerin – es gibt aber auch Ausnahmen – eine ist, die sich nicht so für dich einsetzen wird, wie es eine andere tun würde, weil sie sonst in Zukunft befürchten muss, vom Gericht nicht mehr als Pflichtverteidigerin ausgewählt zu werden. Und so manche Anwältin lebt von diesen Pflichtmandaten. Erst recht vorsichtig sein musst du, wenn sie dir auch noch rät, ein Geständnis abzulegen, um „einen guten Eindruck“ zu machen. Dadurch, dass du gestehst, ersparst du dieser Anwältin und dem Gericht natürlich viele Schwierigkeiten. Wenn man als Verteidigerin eine geständige Angeklagte hat, braucht man nichts mehr machen – dann kann man auch nichts mehr machen. Deswegen haben diese Anwältinnen unter Umständen ein Interesse daran, dass ihre Mandantinnen gestehen. Das ist dann weniger Arbeit. Das ist dann überhaupt keine Arbeit mehr. Die faselt dann bestenfalls noch irgendetwas davon, dass du vor Jahren mal einer alten Oma Kohlen aus dem Keller geholt hast oder so ähnlich und sie deshalb um eine milde Strafe bittet. Wenn es auch schon fast zu spät ist, so ist es immer noch möglich, sich – nachdem das Gericht bereits eine Pflichtverteidigerin ausgesucht hat – noch eine Verteidigerin, der man vertraut, zu suchen. Schwierig ist es allerdings, zu erreichen, dass deine bisherige Pflichtverteidigerin entpflichtet wird und deine neue Wahlverteidigerin an ihrer Stelle vom Gericht beigeordnet wird. Im Normalfall wird sich die Verteidigerin, die du nun gern hättest, darum kümmern, dass die andere entpflichtet und sie selbst beigeordnet wird. Sonst musst du dem Gericht klarmachen, dass die Pflichtverteidigerin dein Vertrauen nicht mehr besitzt, sondern eine andere von dir benannte Verteidigerin. Vorsicht! Erzähle dabei aber dem Gericht nichts, was deine Verteidigungsstrategie oder andere noch schwerwiegendere Dinge verraten könnte. Dann lieber den Vertrauensverlust gar nicht begründen. Normalerweise kannst du jedenfalls erreichen, dass die andere entpflichtet wird. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Neue nun tatsächlich an deren Stelle treten kann. Schlimmstenfalls hast du dann zwar eine Anwältin, die dein Vertrauen besitzt, aber keine Kohle. Dass du neben deiner ungeliebten Pflichtverteidigerin noch eine Wahlverteidigerin hast, kann die Justiz nicht unterbinden, solange du nicht mehr als drei Anwältinnen in diesem Verfahren beschäftigst.
Zwangsverteidigerin in „politischen Verfahren“
„Zur Sicherung des Verfahrens“ neigen Gerichte dazu, in Großverfahren neben den von den Angeklagten ausgewählten Verteidigerinnen noch weitere Anwältinnen beizuordnen. Soweit die Verteidigte und ihre bisherige Anwältin hierzu gefragt werden, wen sie als weitere Verteidigerinnen wünschen, ist das nicht weiter tragisch. Dann muss man sich mit der Wahlverteidigerin darüber einigen, wen man nun noch dazunimmt. Nun werden jedoch häufig Zwangsverteidigerinnen eingesetzt. Weder die Beschuldigte noch die Wahlverteidigerin werden vorher gefragt. Die Übernahme einer Verteidigung gegen den Willen der Verteidigten lehnt jede ernstzunehmende Anwältin ohnehin ab. Wird sie vom Gericht gezwungen, dennoch tätig zu sein, so wird sie in ihrem Verhalten dokumentieren, dass sie gegen ihren Willen hier sitzt, und nichts zur Verteidigung unternehmen. Leider gibt es viele nicht ernstzunehmende Anwältinnen. Grundsätzlich sollte das Verhalten gegenüber der Zwangsverteidigerin mit der Wahlverteidigerin besprochen werden. Auch über Möglichkeiten, diese aus dem Prozess herauszubekommen, kannst du mit deiner Wahlverteidigerin sprechen.
Wie deine Verteidigung be- und verhindert wird
Es gibt seit Jahren die Möglichkeit, nach § 138a StPO die Verteidigerin aus dem Verfahren auszuschließen, wenn sie in dem „Verdacht“ steht, selbst an einer bestimmten Straftat in irgendeiner Form – wenn auch nur entfernt – beteiligt gewesen zu sein. Die Verteidigerin muss durch eine mündliche Verhandlung ausgeschlossen werden. In einem solchen Fall hat man jedoch in der Regel die Gelegenheit, mit der davon bedrohten Verteidigerin noch rechtzeitig zu besprechen, wen man als Ersatz für den Notfall einspringen lassen könnte.
Handelt es sich um ein Ermittlungs- oder Strafverfahren, in dem entweder mehrere angeklagt sind, oder wenn dieses Verfahren mit einer Kette weiterer zusammenhängender Verfahren sachlich verbunden ist, wird es öfter mal vorkommen, dass man versucht, eine Verteidigerin zu bekommen, die in irgendeiner Form schon jemand anderen in diesem Zusammenhang verteidigt. Hier wird es passieren, dass diese Verteidigerin vom Gericht zurückgewiesen wird – wegen „Verbot der Mehrfachverteidigung“ nach § 146 StPO. Das gilt allerdings nur, wenn die Verteidigung mehrerer Angeklagter gleichzeitig erfolgt. Ist die Verteidigung der einen abgeschlossen, darf die Verteidigerin eine andere wegen des gleichen Gegenstandes verteidigen, muss dann aber aufpassen, dass sie nicht in eine Interessenkollision gerät (z. B. dadurch, dass die erste verteidigte Person vertrauliche Informationen mitgeteilt hat, die sie selbst belasten, die zweite Person aber entlasten).
In politischen Strafverfahren geht man auch heute noch daran, die Verteidigung zu behindern oder gar auszuschalten: Durch Panzerglastrennscheiben in den Anwaltszellen, durch Überwachung von Gesprächen und Zensur des ansonsten unzensierten Schriftverkehrs mit der Anwältin (vor allem bei Verdacht der „terroristischen Vereinigung“ § 129a StGB) und schließlich durch die „Kontaktsperre“, die totale Absperrung der Gefangenen auch von ihren Verteidigerinnen, die dann zulässig sein soll, wenn durch eine „terroristische Vereinigung“ eine „gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit einer Person“ besteht. Getroffen werden kann von einer „Kontaktsperre“ eine Gefangene, die selbst der Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ verdächtigt wird, die ganz bestimmter Straftaten verdächtigt wird (Mord, Totschlag, Entführung, Sprengstoffdelikte u. a.) oder die irgendeiner Straftat verdächtigt wird, die im Zusammenhang mit einer Tat nach § 129a StGB stehen soll. Bist du von solchen Maßnahmen betroffen, so wirst du von deiner Anwältin erwarten können, dass sie mit allen ihr möglichen Mitteln gegen diese Maßnahmen vorgeht.
Prozessvorbereitung und Verteidigungsstrategie
Die Verteidigungsstrategie sollte man nicht der Anwältin allein überlassen. Mitreden, mitdiskutieren, Fragen stellen, sich alles erklären lassen – auch hier erinnert die Situation an das Verhältnis zu einer Ärztin. Geheimnistuerei – „Lass mich das nur mal machen, ich mach das schon richtig, vertrau mir ruhig“ – ist eher ein Grund für Misstrauen. Die Anwältinnentätigkeit kann durchsichtig gemacht werden. Als Gefangene bist du ohnehin schon abhängig genug von deiner Anwältin. Dann kannst du verlangen, erklärt zu bekommen, was diese tut. Als Beschuldigte oder Angeklagte wird man sehr oft eine Situation, die Gegenstand der Anklage ist, viel besser kennen und einschätzen können, als dies die Anwältin kann. Die ist in den meisten Fällen echt auf die Beteiligung der Beschuldigten, die sie verteidigt, angewiesen. Das sollte man nicht vergessen, auch wenn man das Gefühl hat, dass sie sich blöde anstellt und so tut, als könnte sie alles allein. Die letzte Entscheidung über deine Verteidigungsstrategie musst du selbst treffen – du musst ja auch die etwaige Strafe selbst absitzen. Sei immer vorsichtig, wenn deine Verteidigerin dir empfiehlt, im Prozess ein Geständnis abzulegen. Das kann ein großer Fehler sein, der nicht mehr rückgängig zu machen ist. Wenn deine Anwältin behauptet, das wäre in deinem Fall das Beste für dich, so muss sie das schon sehr gut begründen können. Denkbar ist dies z. B., wenn du als Jugendliche oder Heranwachsende und als „Erst- und Einzeltäterin“ gehandelt hast. Unter Umständen auch in anderen Fällen, in denen man auf frischer Tat ertappt worden ist. Das kann auch der Fall sein, wenn du Taten aufgrund von Drogenabhängigkeit begangen hast und erreichen willst, statt Knast lieber in eine Drogentherapie zu gehen. So muss sich z. B. aus den Urteilsgründen oder dem Verhandlungsprotokoll ergeben, dass du die Tat(en) aufgrund Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hast. Sonst kann die Strafvollstreckung nicht zugunsten einer Drogentherapie zurückgestellt werden →Kapitel 14 Drogen im Knast. Ansonsten gilt: Entweder du findest eine plausible Erklärung für deine Schuldlosigkeit oder du hältst den Mund. Bei dieser Erklärung musst du aber beachten: Deine Anwältin darf dir nichts in den Mund legen, dich nicht zu lügen auffordern. Aber sie sollte dich darüber aufklären, dass du als Angeklagte berechtigt bist zu lügen. Sie kann deine Geschichte auch auf ihre Glaubwürdigkeit hin prüfen und dich auf die schwachen Punkte hinweisen. Oder dich darauf hinweisen, dass deine Geschichte so absurd ist, dass es doch besser ist, zu schweigen. Sehr oft ist es besser, zu schweigen. Denn wenn du schweigst, darf das Gericht das nicht gegen dich verwenden. Und es ist ganz klar, dass das Gericht dir nachweisen muss, dass du schuldig bist. Das ist nicht so einfach. Wenn du die Vorwürfe dagegen bestreitest und dich bei der Vernehmung in Widersprüche verstrickst, kann das für dich nachteilig sein. Die Verteidigerin sollte auf jeden Fall deine Aussagen testen und dich auf Fangfragen und Lügenfallen vorbereiten. Sie darf keine Zeuginnen beeinflussen, aber kann eigene Ermittlungen anstellen: sich um Entlastungszeuginnen bemühen, Sachverständigengutachten zu deinen Gunsten anfertigen lassen. Dies ist besonders wichtig als Gegengutachten gegen ein dich belastendes Gutachten der anderen Seite →Kapitel 20 Gutachten. Wenn du schon in dem Prozesstermin ein Geständnis ablegst, solltest du das auf jeden Fall vorher mit deiner Anwältin durchgespielt haben. Es ist unter Umständen besser, manche Sachen nicht zu erzählen. Die Anwältin kann dir dabei helfen, zu sammeln, was du noch erzählen könntest. Es kann gut sein, dass sie auf Dinge kommt, die dir nicht eingefallen sind, weil du nicht dachtest, dass es für dich günstig ist. Wenn die vom Gericht ohne deinen Willen bestellte Pflichtverteidigerin ablehnt, deine Aussage vorher durchzugehen, ist das ein Grund, ihre Entpflichtung bei dem Gericht zu verlangen.
Achte darauf, dass deine Anwältin selbst beim Prozesstermin erscheint oder aber nur eine solche Kollegin oder Referendarin als Vertreterin schickt, die ebenfalls dein Vertrauen besitzt und die vorher mit dir gesprochen hat. Weise die Anwältin von Anfang an darauf hin. Du kannst dies notfalls auch auf dem Vollmachtsformular ausdrücklich vermerken. Tritt plötzlich in deinem Prozess jemand als Anwältin auf, die du noch nie gesehen hast, so kannst du ihr auch noch in der Hauptverhandlung das Mandat entziehen. Allerdings: Wenn kein Fall einer „notwendigen Verteidigung“ (§ 140 Abs. 1 und 2 StPO) vorliegt, dann stehst du alleine da. Im Fall der notwendigen Verteidigung ist jedoch der Prozesstermin geplatzt und muss vertagt werden.
Verteidigung bei mehreren Angeklagten
Besonders schwierig ist eine Verteidigung in einem Verfahren mit mehreren Mitangeklagten. Hier darf man sich nicht auseinanderdividieren lassen. Seit 1974 darf in einem Verfahren jede Anwältin nur noch eine Angeklagte vertreten. Dadurch wird eine gemeinsame Vorbereitung erschwert und eine Spaltung und ein Gegeneinanderarbeiten durch gegenseitige ausgesprochene Belastungen gefördert. Man sollte sich auch hier nicht von seiner Anwältin dazu verleiten lassen, sich auf Kosten anderer zu entlasten. Es ist sowieso kurzsichtig zu glauben, man würde damit wirklich besser wegkommen. Fängt erstmal eine an, die anderen zu belasten, so löst sie oft eine Lawine von Denunziation und Gegendenunziationen aus. Das Ergebnis: Die Angeklagten haben sich reihum gegenseitig fertiggemacht und alle kommen schlechter weg. Die Verurteilung ist dann bloß noch eine Formsache. Also: Bestehen auch nur die geringsten Zweifel, ob man durch seine Aussage nicht jemanden belastet, so ist es unverantwortlich, sie dennoch einzusetzen. Versuche dagegen, dich mit den Mitangeklagten über das Prozessverhalten zu verständigen. Es ist nicht verboten, dass die Verteidigerinnen der Angeklagten miteinander sprechen. Es ist auch zulässig, dass sich die Verteidigerinnen auf einen gemeinsamen Plan für die Verteidigung aller Angeklagten einigen. Das sollte deine Anwältin immer versuchen. Unbedingt solltest du vermeiden, gleich selbst die Zusammenarbeit mit den Behörden zu suchen, nur weil du hörst, dass eine Mitangeklagte ausgepackt hat. Ob ihr geglaubt wird, ist sowieso noch vollkommen unklar, und du könntest dabei Dinge eingestehen, die dir im Prozess anders vielleicht nicht hätten nachgewiesen werden können.
Materialien zur Prozessvorbereitung
Sehr wichtig ist es, als Beschuldigte die Prozessakten zu lesen und mit der Anwältin durchzusprechen. Die Anwältin ist zwar nicht befugt, dir die Originalakten zur Einsicht zu überlassen – das wäre ein ziemlich schweres Berufsvergehen und sie könnte große Nachteile dadurch haben –, aber sie darf ohne Weiteres von den Akten Kopien anfertigen und sie dir überlassen (sie muss dir nur das Versprechen abnehmen, die Akte keiner Dritten zugänglich zu machen – mit diesem Versprechen ist sie entlastet). Viele Anwältinnen wissen das nicht und meinen, auch das sei verboten – viele Gerichte übrigens auch, und ebenso die Knastbürokratie ist oft dieser Meinung. Dabei ist aber zu beachten, dass die Anwältin für solche Kopien streng genommen nach dem RVG (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz) pro Kopie 50 Cent für die ersten fünfzig Kopien, für alle weiteren 15 Cent verlangen kann. Die meisten Anwältinnen werden das auch bedenkenlos auf die Gebührenrechnung setzen, insbesondere dann, wenn sie keine Chance haben, diese Kopierkosten vom Staat zurückbekommen. Besonders bei umfangreichen Akten kann dies also ein ziemlich teures Vergnügen werden. Versuche, wenn du kein Geld hast, auszuhandeln, dass dir nur die Selbstkosten berechnet werden. Das sind etwa 5 bis 10 Cent pro kopierte Seite. Die Anwältin wird bei den Besprechungen meist den Gesetzestext in irgendeiner Form bei sich haben – also das Strafgesetzbuch, die StPO usw. Ist man selbst an juristischen Sachen interessiert, so sollte man versuchen, sich Gesetzestexte und Kommentare in der Anstaltsbibliothek auszuleihen oder sich von Leuten draußen besorgen lassen. Auch das setzt leider voraus, dass bei dir genügend Geld vorhanden ist. Juristische Literatur – vor allem Gesetzeskommentare – sind wahnsinnig teuer. Oft genügt es aber, wenn Freundinnen draußen die entsprechenden Texte in einer juristischen Bibliothek heraussuchen, aus dem Internet ausdrucken und dir die entscheidenden Abschnitte einfach zukommen lassen. Du wirst von deiner Anwältin nicht verlangen können, dass sie dir alle Bücher, die du brauchst, besorgt. Aber sie kann dich zumindest beraten, wie du es am geschicktesten anstellst, an diese Unterlagen ranzukommen, und was überhaupt zur eigenen Vorbereitung geeignet ist. Man sollte sich mit allen Fragen sachlicher und juristischer Art, die sich aus den Akten ergeben, an die Anwältin wenden. Sinnvoll ist es dabei, für den Anwaltsbesuch einen schriftlichen Fragenkatalog vorzubereiten, um nicht das Wichtigste zu vergessen – am besten in Stichworten, mit denen nur du etwas anfangen kannst. Jedenfalls sollte man immer, wenn man irgendwelche Zweifel hat, ob die Anwältin den richtigen Weg vor Augen hat, mit ihr darüber diskutieren, ob es darüber hinaus nicht noch andere Möglichkeiten gibt, sich im Prozess zu verhalten. Oft kommt es vor, dass man sie erst dadurch auf die ganz guten Ideen bringt. Die Anwältinnen sind nämlich auch überlastet. Diskutiere deine Prozessstrategie nicht mit deinen Mitgefangenen. Du weißt selbst, auch wenn nicht jede gleich ein Spitzel ist, der Knast hat stets ein „offenes Ohr“ für dich. Manchmal sind Mitgefangene sogar die Hauptbelastungszeuginnen.