17.
Verhalten bei akuten Notfällen
Notfallsituationen stellen für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung dar. Man sieht sich plötzlich einer Situation gegenüber, der man nicht gewachsen ist. Wichtig ist: Wenn ihr euch nicht sicher seid, ob es sich nun tatsächlich um ein lebensbedrohliches oder doch nur um ein harmloses gesundheitliches Problem handelt, ruft im Zweifelsfall immer eine Ärztin. Ihr seid medizinisch nicht ausgebildet und jede Sanitäterin und jede Ärztin muss und wird dafür Verständnis haben. Es gilt immer: Lieber einmal zu oft eine Ärztin gerufen haben als einmal zu selten!
Dieses Kapitel soll dazu dienen euch eine Hilfestellung zu geben, welche Situationen immer als gefährlich einzuschätzen sind. Die einzelnen Krankheitsbilder müssen professionell und kausal behandelt werden! Bis zum Eintreffen der Ärztin besteht eure Aufgabe darin, die Betroffene zu beruhigen und, bis die Versorgung durch medizinisches Personal übernommen wird, zu stabilisieren.
Bei erhaltenem Bewusstsein steht die stabile Seitenlage im Vordergrund. Wenn die Vitalfunktionen (Atmung und Kreislauf) erloschen sind, immer unmittelbar mit kardiopulmonaler Reanimation beginnen! Um diese zu beherrschen, fordert unbedingt in regelmäßigen Abständen Erste-Hilfe-Kurse für alle Inhaftierten.
Zum schnellen Nachschlagen wollen wir auch hier die Grundsätze der Notfallbehandlung wiederholen.
17.1 Maßnahmen beim Herz-
Kreislauf-Atem-Stillstand
Beim Herz-Kreislauf-Stillstand hört – aufgrund verschiedener Ursachen – das Herz auf zu schlagen. Lebenswichtige Organe werden nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Rasch können die Organe ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Das Gehirn stellt hierbei das empfindlichste Organ dar. Nach bereits wenigen Sekunden ohne Sauerstoffversorgung kommt es zum Funktionsausfall (daraus folgt Bewusstlosigkeit), nach etwa drei Minuten kommt es zu irreversiblen Schäden. Um dies zu verhindern, ist eine unmittelbare Therapie erforderlich!!
Dies ist bis zum Eintreffen der sofort zu verständigenden Notärztin nur durch kardiopulmonale Reanimationsmaßnahmen zu gewährleisten.
Da diese Situation für alle Beteiligten verständlicherweise eine Stresssituation und eine Überforderung darstellt, gibt es genau vorgeschriebene Handlungsanweisungen, an denen man sich im Notfall orientieren kann und die helfen, der Betroffenen, so gut es geht, zur Seite zu stehen.
1. Schritt: Überprüfen der Vitalfunktionen
Ansprechen und Berühren: Die Betroffene laut ansprechen, wenn sie hierauf nicht reagiert, berühren und eventuell einen Schmerzreiz setzen.
Wenn hierauf keine Reaktion erfolgt, zunächst laut um Hilfe rufen, um auf die Situation aufmerksam zu machen und weitere Personen zur Unterstützung zu gewinnen.
Kontrolle von Atmung und Kreislauf: Hierzu müssen zunächst die Atemwege freigemacht werden. Der Kopf wird leicht nach hinten überstreckt. Um nun die Atmung zu überprüfen, senkt man das Ohr nahe an den Mund der Betroffenen, den Blick dabei auf den Brustkorb gerichtet. Nun versucht man zu hören, zu spüren und durch die Bewegungen des Brustkorbs zu sehen, ob die Betroffene atmet oder nicht.
Wichtig: Wenn man sich nicht sicher ist, im Zweifelsfall als Atemstillstand werten!! Dann Herzdruckmassage und Beatmung beginnen.
2. Schritt: Herzdruckmassage und Beatmung
Herzdruckmassage: Für die Herzdruckmassage eine Hand auf den Rücken der zweiten Hand legen und die Finger verschränken. Den Ballen der unteren Hand nun in der Mitte des Brustkorbs platzieren (in etwa zwischen den Brustwarzen). Mit einer Frequenz von 100 pro Minute den Brustkorb fest eindrücken. Hierbei sollte der Brustkorb etwa um ein Drittel, mindestens vier bis fünf Zentimeter eingedrückt werden. Die Betroffene immer auf eine harte Unterlage, beispielsweise auf den Boden, legen!
Beatmung: Für die Beatmung den Kopf wieder nach hinten überstrecken, die Nase zuhalten. Dann den eigenen Mund fest auf den der Betroffenen drücken und möglichst dicht nach außen abschließen. Nun das Volumen eines normalen Atemzugs direkt in den Mund der Betroffenen abgeben. Der Brustkorb sollte sich hierbei sichtbar heben.
Immer 30 Herzdruckmassagen im Wechsel mit zwei Beatmungen durchführen. Wenn möglich etwa alle zwei Minuten abwechseln lassen, die Herzdruckmassage erfordert viel Kraft, und es ist essentiell, dass immer fest genug gedrückt wird, sonst wird keine Zirkulation erzeugt!
Immer so weitermachen, bis die Notärztin eintrifft!
Defibrillator: Wenn im Gefängnis ein Defibrillator vorhanden ist, außerdem sofort jemanden schicken, um diesen zu holen. Sobald er vorhanden ist, auspacken, die Elektroden wie angegeben auf den Brustkorb der Betroffenen kleben und den weiteren Anweisungen des Gerätes folgen.
Die derzeit in Deutschland verwendeten Geräte sind zumeist halbautomatisch und geben den Ersthelferinnen sehr genaue Anweisungen, wie sie sich zu verhalten haben.
Wenn zwar kein Bewusstsein, wohl aber eine Atmung festgestellt werden konnte, die Betroffene auf die Seite drehen. Den Kopf in Seitenlage fixieren. Die Reflexe sind in dieser Situation erloschen, und so kann im Falle von Erbrechen verhindert werden, dass das Erbrochene aspiriert wird und die Atemwege verlegt.
Wichtig: Bitte nur, wenn sicher eine Atmung festgestellt werden konnte, im Zweifel unmittelbar mit Herzdruckmassagen und Beatmung beginnen!
17.3 Kardiale und pulmonale Notfälle –
Leitsymptom Brustschmerz
und Atemnot
Bei plötzlich einsetzenden Brustschmerzen oder plötzlich einsetzender Atemnot ist immer an lebensbedrohliche Krankheitsbilder zu denken. Die wichtigsten sind hier aufgelistet. Wenn die Beschwerden nicht eindeutig einer orthopädischen Ursache (beispielsweise Hexenschuss durch eine ruckartige Bewegung) zuzuordnen sind, ist immer die Notärztin zu verständigen!
Akuter Herzinfarkt
Definition: Unterversorgung des Herzmuskels mit Sauerstoff und Nährstoffen und dadurch verursachtes Absterben von Herzmuskelzellen. Meist durch eine Verengung oder einen Verschluss der Herzkranzgefäße bedingt. Der Untergang der Herzmuskelzellen führt zu einem Ischämieschmerz, der sogenannten Angina Pectoris.
Anzeichen: Schmerzen in der Brust (Angina Pectoris), gelegentlich auch in der linken Schulter, im linken Arm, im Oberbauch oder im Kieferwinkel. Enge- oder Druckgefühl, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen, Kaltschweißigkeit und Angstgefühl.
Hilfe durch Mitgefangene: Sofort eine Ärztin rufen, Betroffene beruhigen. Bei Herz-Kreislauf-Stillstand Reanimationsmaßnahmen beginnen.
Hilfe durch die Ärztin: Sofort Einweisung ins Krankenhaus, Schock- und Schmerzbekämpfung, Beruhigungsmittel, Untersuchung des Herzens mit Elektrokardiogramm (EKG) und Blutuntersuchung (vor allem GOT, GPT, LDH und CPK).
Pneumothorax
Definition: Verletzung der inneren oder äußeren Pleurablätter. Hierdurch kann Luft zwischen die Pleurablätter eindringen und das normalerweise durch die Pleurablätter an der Brustwand fixierte Lungengewebe fällt in sich zusammen.
Anzeichen: Starker Schmerz hinter dem Brustbein, Atemnot, Hustenreiz, Blaufärbung der Lippen durch Sauerstoffmangel, Angst- und Vernichtungsgefühl.
Hilfe durch Mitgefangene: Ruhigstellung mit erhöhtem Oberkörper, Beatmung, Schockbekämpfung.
Hilfe durch die Ärztin: Sofortige Krankenhauseinweisung, Sauerstoffbeatmung mit Nasensonde, Maske oder Atembeutel, Bekämpfung des Hustenreizes, Beruhigung. Kreislaufstützung, wenn notwendig Legen einer Thoraxdrainage.
Lungenembolie
Definition: Verschluss einer Lungenschlagader durch ein meist aus den tiefen Beinvenen stammendes Blutgerinnsel. Dadurch steigt der Druck im Lungenkreislauf plötzlich massiv an und kann hierdurch zu einem Rechtsherzversagen führen.
Anzeichen: Plötzlich einsetzende Atemnot, Blaufärbung der Lippen durch eine Unterversorgung mit Sauerstoff, Unruhe, Schockzeichen, Kaltschweiß, Blutdruckabfall, plötzliche uncharakteristische Brustschmerzen, Bluthusten.
Hilfe durch Mitgefangene: Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, sofort eine Ärztin rufen.
Hilfe durch die Ärztin: Sofortige Krankenhauseinweisung, Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, Sauerstoff über Nasensonde. Überwachung der Vitalparameter. Blutverdünnung, bei sehr schweren Fällen medikamentöse Auflösung des Blutgerinnsels.
Status asthmaticus
Definition: Asthmaanfall von über 24 Stunden Dauer. Meist ausgelöst durch eine vorbestehende Allergie oder auch durch einen Bronchialinfekt. Überblähung der Lunge durch Verkrampfung der Bronchien.
Anzeichen: Leitsymptom ist die Atemnot. Hervortreten der Atemhilfsmuskulatur, stark verlängertes Ausatmen, Blaufärbung der Lippen durch Unterversorgung mit Sauerstoff.
Hilfe durch Mitgefangene: Sofortiges Rufen einer Ärztin, Beruhigen der Betroffenen, Lippenbremse (das ist eine Atemtechnik, bei der man gegen die locker aufeinanderliegenden Lippen ausatmet, wodurch die Atemluft in den Bronchien gestaut wird und so der Kollaps der Atemwege verhindert werden soll)!
Hilfe durch die Ärztin: Sauerstoffgabe durch eine Nasensonde, Verabreichung von Asthmasprays.
17.4 Komatöse Zustände
Leitsymptom Bewusstseinstrübung
Definition: Beeinträchtigung des Bewusstseins. Kann bei internistischen Krankheiten (siehe folgende Unterpunkte), aber auch durch Trauma (siehe dort) auftreten!
Hilfe durch Mitgefangene: Bei erhaltener Atmung, stabile Seitenlage. Wenn keine Atmung vorhanden ist, kardiopulmonale Reanimation beginnen!
Überdies immer genau auf Begleitsymptome achten, damit diese beim Eintreffen der Ärztin berichtet werden können. Das kann bei der Ursachenklärung der Bewusstlosigkeit sehr hilfreich sein und die Therapieeinleitung beschleunigen. Auch Vorgeschichte berichten: Sind schwere Grunderkrankungen bekannt?
Hilfe durch die Ärztin: Ursachenklärung (siehe folgende Unterpunkte), Sicherung der Vitalfunktionen, stationäre Einweisung.
Alkoholintoxikation
Definition: Vergiftung des Körpers durch Alkohol.
Anzeichen: Leichte Intoxikation: Gerötetes Gesicht, Übererregbarkeit, verlangsamte Reaktionen, lallende Sprache, vermindertes Schmerz- und Temperaturempfinden (Achtung: Gefahr der Unterkühlung).
Schwere Intoxikation: Bleiches Gesicht, eng gestellte Pupillen, Bewusstseinstrübung bis Koma, flache, beschleunigte Atmung (Achtung: kann bis zur Atemlähmung führen).
Hilfe durch Mitgefangene: Sichern der Atmung durch stabile Seitenlage, in warme Decken hüllen zur Schockprophylaxe. Bei beginnendem Koma sofort eine Ärztin rufen.
Hilfe durch die Ärztin: Stationäre Aufnahme und Überwachung notwendig.
Hypoglykämisches Koma
Definition: Absinken des Blutzuckers unter Werte von 54 mg/dl, meist bei insulinpflichtigen Diabetikerinnen durch zu hohe Insulindosen.
Anzeichen: Bewusstseinstrübung, Krämpfe, Zittern, Kaltschweiß, Blässe, Herzrasen, Erregtheit.
Hilfe durch Mitgefangene: Zucker, Süßigkeiten und Kekse essen.
Ärztliche Untersuchung des Hormonstoffwechsels verlangen, Neueinstellung der Zuckerkrankheit im Krankenhaus verlangen.
Hilfe durch die Ärztin: Intravenöse Verabreichung von Zuckerlösungen, Klärung der Ursachen.
Coma diabeticum
Definition: Überzuckerung des Körpers durch Mangel an Insulin.
Anzeichen: Unruhe und Bewusstseinstrübung, vermehrter Harndrang, beschleunigte Atmung und/oder vertiefte Atemzüge, Azetongeruch in der Ausatemluft, Bauchkrämpfe, Zeichen der Austrocknung.
Hilfe durch Mitgefangene: Sofort ein bis zwei Liter ungezuckerte Flüssigkeit (Tee, Mineralwasser, Wasser) trinken und die Ärztin verlangen. Sofortige Neueinstellung der Blutzuckerwerte im Krankenhaus verlangen.
Hilfe durch die Ärztin: Kochsalzinfusionen, kontinuierliche Insulinzufuhr.
Coma hepaticum bei akutem Leberversagen
Definition: Untergang der Leberzellen und dadurch Funktionsausfall. Medikamentös-toxisch, durch virale Leberentzündungen (Hepatitis) oder durch bereits länger vorhandene Grunderkrankungen.
Anzeichen: Bewusstseinsstörung, Geruch nach Ammoniak, Gelbfärbung der Augen sowie der Haut und Schleimhäute, Anstieg der Leberenzyme, Magen-Darm-Blutungen durch resultierende Gerinnungsstörungen.
Hilfe durch Mitgefangene: Sofort eine Ärztin rufen. Sicherung der Vitalfunktionen. Siehe auch Koma allgemein.
Hilfe durch die Ärztin: Sofortige stationäre Einweisung. Symptomatische Therapie. Die Leber verfügt über eine große Regenerationskapazität, d. h. gute Genesungsaussichten. Wenn notwendig kommen extrakorporale Leberersatzverfahren oder eine Lebertransplantation zum Einsatz.
17.5 Gelbfärbung der Haut, Ikterus
Bei neu inhaftierten Fixerinnen oft das erste Zeichen der Leberentzündung (Hepatitis), ebenso bei chronischer Leberschädigung, bei Lebervergiftung mit Medikamenten und anderen Giftstoffen, bei Entzündungen und Steinen der Galle und Blutkrankheiten möglich oder bei bestimmten Infektionen.
Anzeichen: Die Gelbfärbung kommt dadurch zustande (ebenso wie heller Stuhl und dunkler Urin), dass die roten Blutkörperchen unvollständig oder zu viel abgebaut werden und die Gallenfarbstoffe sich im Gewebe und in den Körpersäften anhäufen. Die häufigste Ursache sind unsaubere, sozusagen vergiftete Spritzen. Wenn du das annimmst, wegen der notwendigen schnellen Behandlung nicht verschweigen!
Behandlung: Schon bei ersten Anzeichen wie Grippegefühl, Abgeschlagenheit, Gliederschmerzen, allgemeine Übelkeit, Druckschmerz im rechten Oberbauch, Fieber, Gelbfärbung frühestens nach fünf Tagen! Nach der Untersuchung der Leberwerte im Labor fragen (Transaminasen, das sind GOT, GPT, Gamma-GT, die beim Untergang von Leberzellen erhöht sind), wegen der Ansteckungsgefahr eventuell Trennung von den Mitgefangenen, Ruhe, Kontrolle des Krankheitsverlaufs am besten in einem Spezialkrankenhaus.
Coma uraemicum bei akutem Nierenversagen
Definition: Die Niere ist für die Regulation des Wasser- und Elektrolythaushalts sowie für die Ausscheidung von Stoffwechselabfallprodukten verantwortlich. Als akutes Nierenversagen bezeichnet man eine prinzipiell reversible Verschlechterung der Ausscheidungsfunktion der Niere, die innerhalb weniger Stunden bis Tage auftritt. Die Ausscheidung der harnpflichtigen Stoffe aus dem Körper unterbleibt, dadurch kommt es zu einem Anstieg dieser Giftstoffe (u.a. Kreatinin und Harnstoff) im Blut.
Anzeichen: Foetor uraemicus – harnähnlicher Geruch über Haut und Mund. Beschleunigte Atmung. Oligo-Anurie – wenig bis keine Harnabgabe, selten in frühen Stadien auch vermehrter Harndrang. Schläfrigkeit bin hin zum Koma.
Hilfe durch Mitgefangene: Flüssigkeitszufuhr – Wichtig: Nur solange die Betroffene bei vollem Bewusstsein ist! Sicherung der Vitalfunktionen, bei Bewusstseinseinschränkung stabile Seitenlage, unmittelbar eine Ärztin rufen.
Hilfe durch die Ärztin: Ausreichend Flüssigkeitszufuhr über einen venösen Zugang. Behandlung der Grunderkrankung, wenn notwendig Nierenersatztherapie (Dialyse), hierzu ist eine intensivmedizinische Betreuung notwendig!
Elektrolyte sind Stoffe wie Natrium, Kalium, Chlor usw., die besonders für den Stoffwechsel der Körperzellen, der Nieren und der Nerven wichtig sind. Besonders häufig kommt es im Knast hier zu Störungen bei unbehandeltem oder unbeobachtetem Erbrechen, Durchfällen, Nieren- oder Leberschäden, Dauerbehandlung mit Cortison, Hunger- und Durststreik.
Anzeichen: Übelkeit, Schlafsucht, Teilnahmslosigkeit, Konzentrationsstörung, Muskelkrämpfe, unregelmäßiger Puls werden meist im Knast nicht ernst genommen.
Behandlung: Wenn eine Mitgefangene abbaut, immer ärztliche Behandlung durchsetzen, in schweren Fällen (Salzmangel, Wasservergiftung, Krämpfe, einsetzende Bewusstlosigkeit) sofort Schockbekämpfung und Krankenhausbehandlung!
17.6 Notfälle Knochen,
Weichteile und Gelenke
Schädel-Hirn-Trauma
Definition: Als Schädel-Hirn-Trauma bezeichnet man jede traumatische Verletzung des knöchernen Schädels mit Beteiligung des Gehirngewebes. Meist durch stumpfe Gewalteinwirkung.
Anzeichen: Das Schädel-Hirn-Trauma wird in drei verschiedene Schweregrade eingeteilt.
Leitsymptome sind in allen drei Stadien ein vorausgegangenes Trauma des Schädels, Bewusstlosigkeit, Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen sowie eine retrograde Amnesie (Störung des Erinnerungsvermögens).Unterschieden werden die drei Stadien nach Ausmaß der Gehirnschädigung, insbesondere nach Dauer der Bewusstlosigkeit.
Stadium I: Gehirnerschütterung (Commotio cerebri)
Bewusstlosigkeit von unter zehn Minuten Dauer
Stadium II: Gehirnprellung (Contusio cerebri)
Bewusstlosigkeit, die länger als zehn Minuten andauert
Stadium III: Gehirnquetschung (Compressio cerebri)
Länger als 60 Minuten andauernde Bewusstlosigkeit
Hilfe durch Mitgefangene: Rekonstruktion des Unfallhergangs. Versorgung offener Wunden am Schädel. Bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage. Nach Wiedererwachen Beruhigung der Betroffenen, Einhüllen in warme Decke, Flüssigkeitszufuhr. Sofortige Verständigung einer Ärztin!
Hilfe durch die Ärztin: Jede Patientin mit Schädel-Hirn-Trauma sollte unbedingt 24 Stunden stationär überwacht werden!! Hirnblutungen entstehen oft langsam noch Stunden nach dem Unfall und können unentdeckt schwere Schäden bis zum Tod der Betroffenen hervorrufen! Unbedingt auf eine stationäre Einweisung drängen! Durchführung bildgebender Diagnostik und je nach Ausmaß chirurgische Entlastung.
Weichteilverletzungen
Definition: Verletzung der Haut und der Weichteilgewebe durch einen spitzen Gegenstand.
Anzeichen: Offene Wunde, hervorquellende oder spritzende Blutung.
Hilfe durch Mitgefangene: Schonende Befreiung der eingeklemmten Extremität, Blutstillung mit Druckverband, Hochlagerung der verletzten Extremität bis zur Versorgung, Schockbekämpfung.
Ist ein Druckverband zur Blutstillung nicht ausreichend, Abbinden der betroffenen Extremität!
Bei Verletzungen durch Fremdkörper, beispielsweise Messerstichverletzungen, das Messer nicht gewaltsam entfernen, möglicherweise wurden Gefäße oder Hohlorgane penetriert!
Hilfe durch die Ärztin: Versorgung der Wunde, primärer oder sekundärer Wundverschluss. Wenn notwendig antibiotische Abdeckung.
Wichtig: Wenn nicht vorhanden: Tetanusprophylaxe!
17.7 Sonderfall: Amputierte Körperteile
Infektion mit Bakterien, die vor allem im Erdstaub sind, oft auch bei kleinsten Wunden.
Anzeichen: Muskelkrämpfe meist in der Kaumuskulatur beginnend, grinsender Gesichtsausdruck, Hohlstreckhaltung der Nacken-Rücken-Muskulatur.
Hilfe durch Mitgefangene: Sofort Krankenhauseinweisung (Intensivstation) verlangen! Abschirmung von allen Außenreizen wie Licht, Geräusche usw. Bei kleinen Bagatellverletzungen immer Impfung gegen Tetanus verlangen!
Ärztin: Sofort Intensivbehandlung im Spezialkrankenhaus.
Sofort Flammen löschen, Kühlen mit eiskaltem Wasser, Trinken möglichst mit Kochsalz, Schock- und Schmerzbekämpfung, bei Verbrennung von mehr als 10 % der Körperoberfläche, z. B. Kopf und Hals, Teile des Rumpfes oder beide Oberschenkel, sofortige Krankenhauseinweisung. Evtl. Verbinden der Wunde mit sterilem Verbandsmaterial.
Definition: Knochenbrüche, meist durch Traumen, selten spontan (z. B. Wirbelkörpereinbrüche bei Osteoporose).
Anzeichen: Starke Schmerzen der betroffenen Extremität, meist ist ein Trauma anamnestizierbar. Die Beweglichkeit ist durch die Schmerzhaftigkeit stark eingeschränkt. Bei Dislokation sind die Bruchstellen durch die Haut zu erkennen. Bei offenen Brüchen sind teils Knochenanteile sichtbar.
Hilfe durch Mitgefangene: Bereits wenn der Verdacht auf einen Bruch besteht, sich so verhalten, als wäre es sicher einer! Unbedingte Ruhigstellung der betroffenen Extremität! Zwischen Kissen oder Decken möglichst bequem, immer leicht erhöht lagern! Sofort eine Ärztin verständigen.
Hilfe durch die Ärztin: Stationäre Einweisung, detaillierte Diagnostik zunächst mittels Röntgen. Dann konservative Versorgung in Gips oder wenn notwendig bei dislozierten Brüchen operative Sanierung.
Definition: Verletzungen mehrerer Körperteile oder Organsysteme, die für sich alleine oder in Kombination lebensbedrohlich sind. Im Gefängnis meist durch Stürze aus großer Höhe.
Anzeichen: Bewusstseinsstörung, beschleunigte Atmung, beschleunigter Puls, Kaltschweißigkeit
(Schockzeichen). Knochenbrüche? Weichteilverletzungen? Offene Verletzungen im Bauch- oder Brustbereich? Schädel-Hirn-Trauma?
Hilfe durch Mitgefangene: Sofort eine Notärztin verständigen! Stillung von Blutungen, bei Bewusstseinsverlust, aber erhaltenen Vitalfunktionen stabile Seitenlage. Bei Atem- und Kreislaufstillstand kardiopulmonale Reanimation beginnen!
Hilfe durch die Ärztin: Stabilisierung der Vitalfunktionen: Sicherung der Atemwege durch Intubation. Infusionstherapie zur Schockbehandlung. Abbinden starker Blutungen. Nach Herstellung der Transportfähigkeit unmittelbarer Transport in ein Krankenhaus mit zur Verfügung stehendem „Schockraum“.
Definition: Verschluss einer tiefen Beinvene durch ein Blutgerinnsel. Auslöser sind oft eine vorausgegangene Operation, eine Immobilisation durch Gips oder Bettlägerigkeit. Selten paraneoplastisch.
Anzeichen: Schwellung, Überwärmung und Schmerzhaftigkeit des betroffenen Beines. Bei begleitender Lungenembolie Atemnot und Brustschmerzen, siehe dort.
Hilfe durch Mitgefangene: Ruhiglagerung, bei dringendem Verdacht wenn möglich bereits präklinisch Verabreichung von Heparin in therapeutischer Dosierung!
Hilfe durch die Ärztin: Definitive Diagnose durch Durchführung einer Kompressionssonographie.
Bei Bestätigung Verabreichung gerinnungshemmender Medikamente für mindestens drei Monate. Anlage eines Kompressionsverbandes am betroffenen Bein, in Folge Verordnung eines Kompressionsstrumpfes.
Definition: Ablagerung von Harnsäurekristallen in Gelenken und Sehnen und deren Umgebung. Ein akuter Gichtanfall tritt bei einer akuten Steigerung der meist bereits chronisch erhöhten Harnsäurewerte auf. Dies kann durch ein kleines Trauma (z. B. schlecht sitzende Schuhe) oder durch falsche Ernährung oder übermäßigen Alkoholkonsum ausgelöst werden.
Anzeichen: Akuter Schmerz in einem Gelenk. Am häufigsten betroffen ist das Großzehengrundgelenk, kann aber auch in den Sprunggelenken, Kniegelenken oder den Ellenbogen auftreten. Weitere Zunahme des Schmerzes im Verlauf mit den klassischen Entzündungszeichen Schwellung, Rötung und Überwärmung und starker Druckschmerz.
Hilfe durch Mitgefangene: Kühlen und Ruhigstellen des betroffenen Gelenks. Wenn vorhanden bereits Diclofenac oder Ibuprofen verabreichen. Dann eine Ärztin rufen.
Langfristig purinarme Diät halten! Alkoholkonsum reduzieren! Allopurinol als Anfallsprophylaxe!
Hilfe durch die Ärztin: Diagnosesicherung mittels Kontrolle der Harnsäurewerte im Blut. Verabreichung entzündungshemmender Medikamente: Indometacin, Ibuprofen, Diclofenac. Kein Aspirin! Cortisoninjektionen in das betroffene Gelenk sind möglich.
17.10 Akutes Abdomen
Leitsymptom Bauchschmerz
Akute Bauchschmerzen können sehr viele unterschiedliche Ursachen haben. Grundsätzlich ist immer bei begleitendem Fieber, Blässe, beschleunigtem Herzschlag, beschleunigter Atmung und Kaltschweißigkeit (Schockzeichen) an eine potentiell bedrohliche Ursache zu denken. In diesen Fällen muss immer eine Ärztin verständigt werden. Euch kommt die Aufgabe zu, die Ausgangssituation einzuschätzen, die Betroffene bis zum Eintreffen der Ärztin zu beruhigen und zu stabilisieren. Merkt euch alle Begleitsymptome und die Vorgeschichte, damit ihr diese der eintreffenden Ärztin berichten könnt!
Blinddarmentzündung
Definition: Akute Entzündung des im rechten Unterbauch gelegenen Blinddarms. Es bildet sich ein Ödem, Gewebe stirbt ab. Wenn es zu einem sogenannten Blinddarmdurchbruch kommt, reißt das Organ ein und die Entzündung setzt sich in die freie Bauchhöhle fort. Dies kann lebensbedrohlich sein!
Anzeichen: Beginn üblicherweise mit Schmerzen in der Nabelgegend, dieser verlagert sich dann in den rechten Unterbauch. Insbesondere Druckschmerz mit Abwehrspannung. Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen. Meist Verstopfung, selten Durchfall.
Hilfe durch Mitgefangene: Bei Verdacht sofort eine Ärztin rufen! Kreislauf stabilisieren, wenn notwendig Schock behandeln! (Siehe dort.)
Hilfe durch die Ärztin: Sofortige Einweisung in eine chirurgische Abteilung. Eine Blinddarmentzündung muss chirurgisch saniert werden, der entzündete Blinddarm wird entfernt.
Definition: Akute Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Oft einhergehend mit Gallensteinen oder Alkoholismus. Selten nach chirurgischen Eingriffen oder Traumen.
Anzeichen: Heftige Schmerzen im Mittel- oder linkem Oberbauch, oft gürtelförmig in die linke Flanke ausstrahlend, manchmal bis in den linken Rücken und Schulter. Überblähung des Bauchs, Übelkeit, Erbrechen, Schockzustand.
Hilfe durch Mitgefangene: Zunächst keine feste Nahrung zu sich nehmen. Sofort eine Notärztin verständigen. Wenn notwendig Schockbehandlung!
Hilfe durch die Ärztin: Verabreichung von Flüssigkeit und Elektrolyten über die Vene. Schmerzbehandlung. Behandlung der Ursache (z. B. eingeklemmter Gallenstein), Antibiotikagabe wenn notwendig.
Definition: Defekt in der Schleimhaut und der Muskelwand des Magens oder des Darms durch eine chronische Überproduktion von Magensäure, die die schleimhautschützenden Faktoren überwiegt. Oft Nachweis einer Helicobacter-Infektion. Wird der Defekt zu groß, kommt es zu einer Perforation, Magen- oder Darminhalt gelangt in die freie Bauchhöhle.
Anzeichen: Meist schon längere Schmerzanamnese. Gelegentlich ist ein Magen- oder Darmgeschwür bereits vorbekannt. Dieses sollte immer medikamentös behandelt werden.
Eine Perforation äußert sich dann durch einen plötzlich einsetzenden Schmerz im Oberbauch unmittelbar von einer Verhärtung der Bauchdecke und einer starken Abwehrspannung begleitet. Flache Atmung. Übelkeit, selten Erbrechen.
Hilfe durch Mitgefangene: Nahrungskarenz, Verständigen einer Ärztin.
Hilfe durch die Ärztin: Eradikation des Helicobacter pylori durch Antibiotikagabe. Außerdem Verabreichung eines Medikamentes, das die Säureproduktion im Magen hemmt.
Bei Perforation: Legen einer Magensonde, krampflösende Schmerzmittel. Einweisung auf eine chirurgische Station.
Definition: Eine Gallenkolik wird verursacht, wenn sich ein über lange Zeit asymptomatischer Gallenstein aus der Gallenblase löst und im Gallengang stecken bleibt. Hier behindert er den Abfluss der Galle aus der Gallenblase in den Darm.
Anzeichen: Heftige krampfartige Schmerzen meist im rechten Oberbauch. Diese nehmen nach Nahrungsaufnahme stark zu. Appetitlosigkeit, Erbrechen. Gelbsucht, brauner Urin, heller Stuhl.
Hilfe durch Mitgefangene: Eine Ärztin rufen und genaue Untersuchung zur Klärung der Schmerzen verlangen. Nahrungskarenz!
Hilfe durch die Ärztin: Stationäre Einweisung, genaue Klärung der Ursache der Schmerzen. Chirurgische Entfernung der Gallensteine. Verabreichung von Spasmolytika.
Definition: Nierenkoliken werden verursacht, wenn sich ein über lange Zeit asymptomatischer Nierenstein aus dem Nierenbecken löst und im Harnleiter stecken bleibt. Hierdurch entsteht eine Harnabflussstörung. Als Komplikation kann es zu einer Nierenbeckenentzündung kommen.
Anzeichen: Krampfartige Schmerzen einseitig im Bereich des betroffenen Nierenlagers. Schweißausbrüche, Erbrechen. Oft blutiger Harn. Klopfschmerz im Nierenlager.
Hilfe durch Mitgefangene: Wärme, Bewegung und viel Trinken! Ärztin verständigen!
Hilfe durch die Ärztin: Sicherung der Diagnose. Verabreichung krampflösender Medikamente. Entfernung des Nierensteins. Eine Nierenbeckenentzündung muss antibiotisch behandelt werden.
Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems können zum einen lebensbedrohlich sein oder aber bei fehlender Behandlung schwere Schäden verursachen. Im Besonderen muss jedem Verdacht auf einen Schlaganfall unbedingt nachgegangen werden. Wenn hier nicht in kürzester Zeit therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden, bleiben immer motorische oder kognitive Schäden zurück!
Definition: Absterben von Gehirngewebe. Meist liegt ein Gefäßverschluss und somit eine Mangeldurchblutung der entsprechenden Hirnareale, seltener eine Hirnblutung zugrunde.
Anzeichen: Klassische Zeichen eines Schlaganfalls sind Lähmungserscheinungen oder Sensibilitätsstörungen einer Körper- oder Gesichtshälfte. Des Weiteren Sehstörungen eines Auges, Sprachstörungen durch motorische Einschränkungen oder auch Wortfindungsstörungen. Seltener Bewusstseinsverlust.
Bei Blutungen darüber hinaus starker plötzlich einsetzender Kopfschmerz.
Hilfe durch Mitgefangene: Betroffene beruhigen, Oberkörper hoch lagern. Nichts zu trinken und nichts zu essen geben, es besteht Aspirationsgefahr! Sofort eine Notärztin verständigen!
Hilfe durch die Ärztin: Bei Verdacht auf Schlaganfall immer unmittelbare Einweisung in eine Klinik mit Stroke-Unit! Innerhalb von 4,5 Stunden muss die Diagnose gesichert und eine Therapie eingeleitet worden sein!
Definition: Krampfanfälle entweder nur einzelne Gliedmaßen oder Extremitäten betreffend oder aber als sogenannte „generalisierte Anfälle“ den ganzen Körper betreffend.
Anzeichen: Bei „kleinen“ Anfällen Zuckungen einer Extremität, bei sogenannten generalisierten Anfällen Krampfen des ganzen Körpers, Bewusstseinsverlust, vorübergehender Atemstillstand. Gelegentlich unwillkürlicher Stuhl- oder Harnabgang.
Hilfe durch Mitgefangene: Die meisten Anfälle enden ohne die Notwendigkeit einer Therapie. Dies ist im Einzelfall aber nicht absehbar, deswegen sollte immer eine Ärztin hinzugerufen werden!
Bis zum Eintreffen darauf achten, dass die Krampfende sich nicht verletzt. Wenn möglich Seitenlage, um Aspirationen zu verhindern. Nicht versuchen, Verkrampfungen der Kiefermuskulatur zu lösen, kann durch Bisse zu Verletzungen der Helferin führen!
Hilfe durch die Ärztin: Verabreichung krampflösender Medikamente. Wenn notwendig Sicherung der Atemwege. Ursachenforschung!
Hirnhautentzündung
Definition: Entzündung der Hirn- und Rückenmarkshäute, meist fortgeleitet aus anderen Körperregionen, gelegentlich auch direkt bei Schädel-Hirn-Trauma. Bakteriell oder viral.
Anzeichen: Kopfschmerzen, Fieber, Krämpfe, Nackensteifigkeit, sehr starke Schmerzen beim Vorbeugen des Nackens oder Heben der Beine bis zum Brustkorb. Störung der Reflexe, Bewusstseinsverlust. Überempfindlichkeit gegen Licht und laute Geräusche.
Hilfe durch Mitgefangene: Bei Verdacht sofort eine Ärztin rufen! Die Betroffene ruhig und im Halbdunkel lagern. Bei Bewusstseinsstörungen Sicherung der Vitalfunktionen durch stabile Seitenlage.
Hilfe durch die Ärztin: Entnahme von Rückenmarkswasser zur Diagnosesicherung. Dann Beginn einer Antibiotikagabe. Bei Bewusstseinseinschränkungen Therapie des Hirnödems. Bei Ateminsuffizienz ist eine Intubation notwendig. Gelegentlich Behandlung und Überwachung auf Intensivstation.
Bandscheibenvorfall
Definition: Die knorpelige Bandscheibe, die sich zwischen jeweils zwei Wirbelkörpern befindet, drückt sich in den Wirbelkanal vor und komprimiert die dort verlaufenden Nervenstränge. Insbesondere im Lendenwirbelsäulenbereich, seltener ist auch die Halswirbelsäule betroffen. Oft seit längerem Rückenschmerzen in der Anamnese, nicht selten auslösendes Ereignis (z. B. Tragen schwerer Lasten).
Anzeichen: Starke, meist umschriebene Rückenschmerzen, Ausstrahlung ins Gesäß oder ein Bein möglich. Oft auch Taubheitsgefühl, Verspannung der Muskulatur! Im schlimmsten Fall Lähmungserscheinungen, dann ist eine sofortige chirurgische Entlastung der Nervenstränge notwendig!
Hilfe durch Mitgefangene: Beruhigen der Betroffenen. Ruhigstellung! Keine schnellen Bewegungen, kein schweres Heben! Ärztin rufen!
Hilfe durch die Ärztin: Bei Lähmungen Einweisung auf eine neurochirurgische Abteilung! Ansonsten je nach Symptomatik oft Schmerztherapie und konservative Therapie mit Krankengymnastik zur Kräftigung der Rückenmuskulatur ausreichend.
Alkoholentzugsdelir
Definition: Abrupter Alkoholentzug bei chronischem Alkoholmissbrauch. Beginn der Symptome meist 24 bis 48 Stunden nach Beginn des Entzugs.
Anzeichen: Angstzustände, zunehmende Verwirrtheit, Schwitzen und Zittern. Bei schweren Entzugserscheinungen Halluzinationen (oft kleine Tiere), Desorientierung, motorische Unruhe, Herzrasen, Blutdruckabfall, Hyperventilation.
Hilfe durch Mitgefangene: Beruhigen, sofort eine Ärztin verständigen! Die Betroffene davon überzeugen, eine mögliche Alkoholabhängigkeit nicht vor den Ärztinnen zu verschweigen!
Hilfe durch die Ärztin: Oft ist es notwendig, der Betroffenen Beruhigungsmedikamente zu verabreichen. Das Alkoholentzugsdelir kann unter Umständen unbehandelt lebensgefährlich sein!!
Definition: Gedanken und Planung sowie schließlich auch Durchführung konkreter Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, sich das Leben zu nehmen. Oft liegt eine psychiatrische Grunderkrankung vor, die durch die belastende Situation der Inhaftierung dekompensiert. Möglicherweise werden die gewohnten Psychopharmaka unter den neuen Umständen nicht mehr gewohnt eingenommen. Selten kein vorausgehender Krankheitsverlauf. Hier liegt ein akutes Erlebnis zugrunde, das die Betroffene auf welche Weise auch immer traumatisiert und das Gefühl hervorgerufen hat, der jetzigen Situation und der Zukunft nicht mehr gewachsen zu sein.
Anzeichen: Äußerung über Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit, Angst vor der Zukunft, depressive Verstimmung. Manchmal aber auch vollständige Zurückgezogenheit, Abbruch des Kontaktes mit der Außenwelt und anderen Mitgefangenen.
Hilfe durch Mitgefangene: Zunächst die Betroffene aus der gefährlichen Situation befreien.
Bei Erhängen sofort die Schnur durchschneiden und die Verletzte fest umfassen und behutsam zu Boden gleiten lassen. Vorsicht bei eventuellen Wirbelsäulenverletzungen. Bei Ersticken sofort die Plastiktüte entfernen! Bei Vergiftung Reste der eingenommenen Substanz aus dem Mund entfernen. Wenn die Betroffene bei Bewusstsein ist, Erbrechen auslösen. Wenn das Bewusstsein erloschen ist, stabile Seitenlage und auf keinen Fall zum Erbrechen bringen! Hier besteht Aspirationsgefahr! Bei fehlendem Bewusstsein und fehlenden Vitalzeichen (Atmung, Puls) kardiopulmonale Reanimation beginnen!
Hilfe durch die Ärztin: Behandlung möglicher entstandener Verletzungen vor Ort.
Jede Suizidgefährdete braucht psychiatrische und psychotherapeutische Betreuung! Oft ist je nach vorliegender Grunderkrankung die Einnahme von Psychopharmaka notwendig!
Mindestens genauso wichtig ist es, zusätzlich Unterstützung des sozialen Umfelds zu spüren. Zeigt der Betroffenen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine ist und ihr für sie da seid!
Katatoner Erregungszustand bei Schizophrenie
Definition: Akuter Erregungszustand bei zugrunde liegender Schizophrenie.
Anzeichen: Wechsel von Ruhe, die bis hin zur völligen Starrheit und Bewegungslosigkeit reicht, und plötzlicher Aggression, die sowohl gegen die eigene Person als auch gegen fremde Personen gerichtet sein kann. Wirr reden, Wahnvorstellungen.
Hilfe durch Mitgefangene: Beruhigen der Betroffenen! Hierbei auf die eigene Sicherheit achten! Andere Mitgefangene zu Hilfe holen. Ärztin rufen!
Hilfe durch die Ärztin: Hier ist die Verabreichung von Psychopharmaka (Beruhigungsmittel, Neuroleptika) unumgänglich. In schweren Fällen Überwachung auf Intensivstation.
Akuter Glaukomanfall
Definition: Sehr rasch auftretende Steigerung des Augeninnendrucks durch akute Abflussstörung des Kammerwassers.
Anzeichen: Heftige Schmerzen im Auge, Kopfschmerzen, Rötung des Auges, Sehverschlechterung, sehr harter Augapfel, gelegentlich Übelkeit und Brechreiz.
Hilfe durch Mitgefangene: Beruhigen, Versuch, die Betroffene in helles Licht sehen zu lassen. Sofort eine Ärztin verständigen!
Hilfe durch die Ärztin: Medikation mit Augentropfen, wenn dies nicht hilft, in seltenen Fällen operative Verfahren.
Definition: Ablösung der inneren Schichten der Netzhaut von den Anteilen, die die Versorgung gewährleisten.
Anzeichen: Lichtblitze im seitlichen Gesichtsfeld, dann Gesichtsfeldeinschränkung durch eine „aufsteigende dunkle Mauer“ oder „sich senkender Vorhang“.
Hilfe durch Mitgefangene: Akuter augenärztlicher Notfall, sofort eine Augenärztin verständigen!
Hilfe durch die Ärztin: Chirurgische Sanierung notwendig.
Verletzungen des Augapfels
Definition: Meist Schnittverletzungen (z. B. Messer, Schere) oder Metallsplitter, die nicht selten im Inneren des Augapfels verbleiben. Auch Prellungen des Auges sind sehr schmerzhaft!
Anzeichen: Starke Augenschmerzen, Rötung, vermehrter Tränenfluss, Lidkrämpfe.
Hilfe durch Mitgefangene: Beruhigen, Anlage eines sterilen Augenverbandes (bei Prellungen beidseits), sofort eine Ärztin rufen!
Hilfe durch die Ärztin: Stationäre Einweisung! Entfernung der Fremdkörper, Wundreinigung, Schmerzbehandlung, steriler Augenverband. Bei Prellungen steriler Augenverband auf beiden Augen.
Augenverätzung
Kalk- und Laugenverätzungen sind am Auge immer gefährlicher als Verätzungen mit Säure. Sofort nach dem Unfall stärkster Schmerz, Tränenfluss, Lichtscheu, Erblindungs- und Todesangst. Oft lässt sich das Auge nicht mehr öffnen, Blasenbildung auf den Lidern, Hornhaut getrübt, verdickt und verletzt.
Selbsthilfe: Unter laufendem Wasser viel und lange spülen, schädigendes Mittel sofort evtl. mit Wattebausch oder notfalls Taschentuchzipfel entfernen.
Ärztin: Sofort als Notfall in Augen-Spezialklinik.
Hörsturz
Definition: Plötzliche, meist einseitige Einschränkung des Hörvermögens. Diese reicht von völliger Gehörlosigkeit zu einer Empfindungsstörung für einzelne Frequenzen. Es besteht die Hypothese, diese seien durch eine Durchblutungsstörung des Innenohrs verursacht. Auslöser ist oft eine ungewohnte plötzliche oder aber eine chronische Stressbelastung.
Anzeichen: Nachlassendes Hörvermögen auf einer Seite. Gefühl von „Watte im Ohr“.
Hilfe durch Mitgefangene: Sofortiges Verständigen einer Ärztin!
Hilfe durch die Ärztin: Hohe Rate an Spontanheilungen, Verabreichung durchblutungsfördernder Infusionen.
Definition: „Steckenbleiben“ ungenügend zerkauter Nahrung in der Speiseröhre.
Anzeichen: Plötzliche starke Schmerzen unter dem Brustbein nach Nahrungsaufnahme. Anhaltender Würgereiz. Weitere Nahrung oder Flüssigkeit kann nicht aufgenommen werden.
Hilfe durch Mitgefangene: Betroffene von hinten fest umfassen und durch ruckartigen Druck versuchen, sie zum Hochwürgen des Fremdkörpers zu bringen. Wenn dies keinen Erfolg zeigt, stabile Seitenlage, Betroffene beruhigen und sofort eine Ärztin verständigen!
Hilfe durch die Ärztin: Endoskopische Fremdkörperentfernung, Verabreichung krampflösender Medikamente.
17.15 Notfälle durch Einwirkungen
von Hitze/Kälte, Strom, Vergiftungen
Unterkühlung
Definition: Absinken der Körperkerntemperatur durch Kälteeinwirkung, die der Körper durch die eigene Wärmeproduktion nicht kompensieren kann.
Anzeichen: Fühlbare Unterkühlung des ganzen Körpers. Muskelzittern, Blässe, Abgeschlagenheit, Bewusstlosigkeit, Krämpfe, Sprachstörungen, Halluzinationen und Verwirrtheit. Kann bis zu Atem- und Kreislaufstillstand führen.
Hilfe durch Mitgefangene: Langsames Erwärmen durch Einhüllen in warme Decken! Wichtig: Flach lagern, Extremitäten nicht über Herzniveau anheben, sonst kann nach starker Unterkühlung ein reflektorischer Herzstillstand die Folge sein!
Hilfe durch die Ärztin: Weiter langsames Erwärmen. Infusion von Kochsalzlösung und Glukose!
Sauerstoffgabe, wenn notwendig Intubation!
Transport in ein Krankenhaus mit Maximalversorgung!
Definition: Anstieg der Körperkerntemperatur über 40 °C. Meist durch körperliche Arbeit in starker Hitze.
Anzeichen: Fiebrige Temperaturen, Bewusstseinstrübung, Krämpfe, Übelkeit, Erbrechen, Schwäche. Aussetzen der Schweißproduktion.
Hilfe durch Mitgefangene: Kleider entfernen, feuchte Tücher auf Kopf und Nacken, frische Luft und Ventilation, bei erhaltenem Bewusstsein Verabreichung von ausreichend Flüssigkeit. Nicht bei Bewusstlosigkeit: Aspirationsgefahr (Gefahr des Einatmens)! Beine erhöht und Kopf tief lagern.
Hilfe durch die Ärztin: Rehydrierung (Wasser zuführen), wenn notwendig stationäre Einweisung und Überwachung der Vitalfunktionen!
Definition: Schäden durch Überdosis verschiedener Substanzen.
Anzeichen: Bewusstlosigkeit oder Erregung und Halluzinationen. Krämpfe, Veränderungen der Pupillen. Unregelmäßige beschleunigte oder verlangsamte Atmung.
Herzrasen oder verlangsamter Puls, Blutdruckabfall oder -anstieg.
Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Bauchkrämpfe.
Rötungen der Haut, Verätzungszeichen.
Hilfe durch Mitgefangene: Sicherung der Vitalfunktionen (Atmung und Kreislauf).
Bei Vergiftungen über die Haut Entfernen kontaminierter Kleidung, Reinigung mit reichlich Wasser (Cave: Selbstschutz!). Bei peroralen Vergiftungen und erhaltenem Bewusstsein Erbrechen auslösen! Drei Esslöffel Kochsalz in einem Glas Wasser auflösen und der Vergifteten zu trinken geben. Nicht bei Vergiftungen mit Säuren oder Laugen! Bei Verätzungen reichlich Wasser trinken! Nach Kontakt mit Atemgiften (z. B. Kohlenmonoxid) sofort an die frische Luft bringen! In allen Fällen wenn notwendig kardiopulmonale Reanimation!
Hilfe durch die Ärztin: Ggf. Intubation und Beatmung.
Ggf. Neutralisierung der Vergiftung, Erbrechen auslösen. Stationäre Aufnahme und ggf. Magenspülung.
17.16 Sonstige Notfälle
Definition: Überschießende Abwehrreaktion des Körpers auf eigentlich harmlose Stoffe. Es handelt sich oft um Nüsse, andere Nahrungsmittel, Insektengifte, Gräser oder Pollen sowie Medikamente (z. B. Penicillin).
Anzeichen: Rötung der Schleimhäute, Juckreiz, Asthma, Erbrechen, Durchfälle.
Eine schwere Form einer allergischen Reaktion wird als allergischer Schock bezeichnet.
Hilfe durch Mitgefangene: Vermeiden der auslösenden Substanz, wenn vorhanden Antihistaminika verabreichen.
Hilfe durch die Ärztin: Sicherung der Atemwege. Schockbekämpfung. Verabreichung von Antihistaminika, Cortison oder in schweren Fällen Adrenalin.
Sonderfall: Anaphylaktischer (allergischer) Schock: Durch eine Weitstellung der peripheren Blutgefäße kommt es zu Übelkeit, Kreislaufbeschwerden bis hin zum Schock, akute Atemnot.
Es folgt: Sobald bei einer allergischen Reaktion Allgemeinsymptome wie Kreislaufbeschwerden, stärkere Atemnot, Schockzeichen auftreten, handelt es sich um eine unmittelbar bedrohliche Situation. Es muss unbedingt eine Ärztin verständigt werden!
Hauptzeichen ist die Einschränkung des Bewusstseins bei sehr hohem Blutdruck, der erste Wert oft über 200 mmHg. Häufig bei älteren Mitgefangenen mit Übergewicht, Stoffwechsel- oder Nierenkrankheiten oder Gefäßverkalkung (Arteriosklerose).
Anzeichen: Kopfschmerzen, Kopfdruck, gerötetes Gesicht, Blutandrang und Hitzegefühl im Kopf, Benommenheit.
Selbsthilfe: Ruhigstellen, Freihalten der Atemwege, Ärztin rufen.
Ärztin: Blutdrucksenkende Mittel, evtl. Beruhigungsmittel, evtl. auch Cortison, Krankenhauseinweisung und ständige Überwachung.
Das Blut wird abgehustet, also nicht unwillkürlich erbrochen. Dennoch ist die eigene Unterscheidung oft schwierig.
Anzeichen: Das Blut ist hellrot, schaumig, oft mit Spucke durchsetzt. Wenn das Blut runtergeschluckt und vom Magen angedaut wird, kann es beim Erbrechen kaffeesatzartig aussehen. Häufigste Ursache im Knast: Offene, unbehandelte Lungentuberkulose, chronische Stauungslunge, Herzfehler, Fremdkörper in den Atemwegen, chronische Bronchitis, Lungenkrebs.
Selbsthilfe: Ruhigstellung, Schockbekämpfung, Ärztin rufen und sofortige Krankenhauseinweisung verlangen.
Ärztin: Schockbekämpfung, Diagnose stellen, vor allem muss die Lunge geröntgt und evtl. eine Bronchoskopie gemacht, d. h. in die Luftwege hineingesehen werden.
Hauptursachen im Knast sind: Blutende Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwüre, geplatzte Speiseröhrengefäße bei schwerem Leberschaden, Magenschleimhautentzündung, Magen-, Darmkrebs, Darmverschluss.
Anzeichen: Meist wird Blut erbrochen, das entweder hellrot, himbeergeleeartig oder wie Kaffeesatz aussieht, je nachdem, wie lange das Blut im Magen gewesen ist. Alarmierend sind immer massive Blutungen im Schwall.
Behandlung: Sofortige Krankenhauseinweisung und Untersuchung, Erstbehandlung wie beim Schock, Magensonde.
Blut im Urin
Ist nur selten lebensgefährlich. Es muss sofort geklärt werden, ob die Ursachen Steine, akute Nierenentzündungen oder -geschwülste sind oder ob Verletzungen (z. B. Nierenkapselriss mit Schmerzen in der Nierengegend meist unterhalb der Rippen neben der Wirbelsäule hinten) vorliegen, die meist alarmierend sind.
Behandlung: Sofort krankenhausärztliche Untersuchung fordern, Blutbild- und Urinuntersuchung, evtl. Röntgen der Niere mit Kontrastmittel, Blasenspiegelung, Röntgen der Nierengefäße.
Anzeichen: Manchmal hellrotes Blut auf dem Stuhl (Hämorrhoiden, „Wolf“), manchmal hellrot-schleimige Stühle (aus dem Enddarm bei Entzündungen, Missbildungen, Geschwülsten) und manchmal pechschwarz-stinkend (kommt als Teerstuhl aus oberen Darmabschnitten).
Behandlung: Ursache muss sofort gefunden werden, auf Verletzungen achten! Evtl. Schockbekämpfung und Krankenhauseinweisung.
Anzeichen: Verstärkung der Schluckbeschwerden meist bei Gefangenen, die schon häufig an Mandelentzündung gelitten haben, bis hin zur totalen Mundsperre, kein Sprechen und kein Kauen mehr möglich, Fieber, starke oder weniger starke Schmerzen hinten am Hals, vor allem bei schlechter Ernährung und schlechtem Gesundheitszustand (wie häufig im Knast).
Behandlung: Sofort Krankenhauseinweisung, evtl. Operation, Antibiotikabehandlung (Penicillin). Der Abszess kann wie bei allen Infektionen im Kopfbereich schnell das Gehirn erreichen und schwer schädigen.
Wenn kein Urin mehr kommt trotz Essen und Trinken, ist das immer ein bedrohliches Zeichen. Entweder funktioniert die Niere nicht mehr oder aber der Abfluss ist durch Entzündungen, Krämpfe oder Fremdkörper und Geschwülste verstopft.
Anzeichen: Nieren- und Blasenschmerzen, vielleicht zuvor Jucken und Brennen beim Wasserlassen, rötlicher oder eitriger Urin, plötzlich oder langsam entstehend kein Urin mehr, es kann zu Erbrechen, Übelkeit, grauer Gesichtsfarbe, Darmschmerzen und Bewusstlosigkeit kommen.
Behandlung: Wie beim Schock, sofort Notärztinnenbehandlung und Spezialbehandlung durch Nierenfachärztinnen im Krankenhaus verlangen (Urologin).
Hast du Beschwerden, mit denen du nicht allein fertigwirst, so bist du auf die Gefängnismedizin angewiesen. Du kannst dich jedoch nicht darauf verlassen, dass du automatisch die notwendige Behandlung bekommst. Es sind schon einige Anstrengungen nötig, um überhaupt ernst genommen zu werden. Wir beschreiben zunächst, wie man sich allgemein gegenüber der Gefängnismedizin verhalten kann. Anschließend zeigen wir an einem konkreten Beispiel, wie man sich gegen die Gleichgültigkeit der Gefängnisärztin durchsetzen kann.
Wie man an die Ärztin rankommt
Wenn man wegen eines normalen Krankheitsfalls − und nicht wegen eines Notfalls − zur Ärztin will, geht das so vonstatten, dass man morgens beim ersten Aufschluss bei der Stationsbeamtin den Antrag auf Ärztinnenbesuch abgibt. Vergisst man es in der Hektik, muss man in der Regel bis zum nächsten Tag warten. Die Anträge gehen direkt an die Ärztin. Diese überprüft die Anträge und legt fest, wer direkt zu ihr kommt oder auf der langen Warteliste landet. Deswegen solltest du schon in deinem Antrag die wichtigsten Symptome und Beschwerden beschreiben. Bei dringenden Problemen solltest du oben auf den Antrag „DRINGEND“ schreiben. Was ihr gemeinhin wirklich imponiert, sind all jene Schmerzen, die in den internistischen Bereich fallen, also die inneren Organe wie Magen, Lunge, Leber etc. betreffen. Natürlich nur dann, wenn einer nicht gerade zuvor röntgenologisch, labortechnisch oder sonst wie „notorisches Simulantentum“ nachgewiesen wurde. Wenn du jeden Tag einen Antrag mit „Dringend“ obendrauf schreibst, dann wirst du irgendwann gar nicht mehr ernst genommen, und deine Anträge landen im Müll.
Du hast ein Recht darauf, dass deine Kommunikation mit der Ärztin geheim bleibt (ärztliche Schweigepflicht!). Du kannst deinen Antrag deswegen in einen Briefumschlag stecken und den dürfen die Wärterinnen, aber auch die Anstaltsleitung oder anderes Knastpersonal dann nicht öffnen.
Wenn deine Anträge ohne Reaktion bleiben, solltest du versuchen, mit deiner Sozialarbeiterin oder dem Pfarrer/Imam persönlich zu sprechen, und ihr/ihm klarmachen, dass du eine Ärztin brauchst. Diese sollte dir dann dabei helfen, deinen Antrag durchzusetzen.
In manchen Fällen – wenn du „nur“ Kopfschmerzen oder eine leichte Grippe hast und du deswegen nicht unbedingt zu der Ärztin musst – kann es auch passieren, dass die Beamtinnen dir mit einer Tablette helfen. Das erspart dir dann die langen Wartezeiten bei der Ärztin.
Es gibt auch Sanitäterinnen im Knast. Die sind dafür zuständig − ein bisschen wie eine Knastapotheke −, die Medikamente nach den Anweisungen der Ärztin zu verteilen. Außerdem können sie dir auf Anweisung von den Beamtinnen auch Schmerztabletten geben, wenn es sich „nur“ um leichte Schmerzen handelt (s. o.).
Mit Zahnschmerzen musst du, genauso wie oben beschrieben, einen Antrag auf Besuch bei der Knastärztin stellen. Bei der Abgabe des Antrags solltest du der Beamtin deutlich machen, dass du Zahnschmerzen hast und es dringend ist. Zahnärzte sind montags bis freitags im Knast, allerdings musst du wahrscheinlich trotzdem lange warten. In der Zwischenzeit kann man auch hier versuchen, von den Beamtinnen oder von der Sanitäterin Schmerztabletten zu bekommen. Handelt es sich, wie bei einer Wurzelvereiterung, um wirklich unerträgliche Schmerzen (die praktisch nicht vorgetäuscht werden können), kann man „Glück“ haben und in die Zahnklinik ausgeführt werden. Das allerdings erst dann, wenn man vor Schmerzen eine ganze Nacht lang getobt und um Schmerztabletten gebettelt hat.
Die Vorführung bei der Ärztin
Hat man einen Termin bei der Ärztin bekommen, wird man erforderlichenfalls vom Arbeitsantritt freigestellt und hat darauf zu warten, dass man der Ärztin vorgeführt wird. Zu Gehunfähigen kommt die Ärztin im Laufe des Tages auf die Zelle. Die Vorführung vollzieht sich stationsweise. D. h., die Stationsbeamtin sucht sich zu einem bestimmten Zeitpunkt diejenigen Gefangenen ihrer Station zusammen, die einen Termin bei der Anstaltsärztin haben. Sie stellt sie am Zwischengitter bereit. Dort werden sie von einer Verfügungsbeamtin übernommen. Diese geleitet sie zum Revier, der Krankenabteilung, wo sie eine Sanitäterin empfängt und ins Wartezimmer bringt. Da man die Stationen zur Vermeidung von Leerzeiten im Allgemeinen viel zu früh abruft, beginnt nun eine sehr lange Wartezeit, die allerdings zum Gespräch mit Gefangenen von anderen Stationen genutzt werden kann. Das Wartezimmer der Ärztin wird dadurch zu einer Art interstationärer Knastnachrichtenbörse. Die Ärztin trägt die vorgetragenen Beschwerden stichwortartig in die Krankenakte ein und weist die dabeisitzende Sanitäterin an, der Gefangenen künftig bestimmte Medikamente zu verabreichen. Die Medikamente werden morgens in Tagesrationen ausgegeben. Da der Knast die Medikamente bezahlen muss, sind sie sehr sparsam mit der Ausgabe.
Chancen auf eine ernsthafte Untersuchung oder gar Überweisung an eine Fachärztin hat die Gefangene nur bei sichtbar akuten schweren Erkrankungen oder nach ihrem x-ten Vorstelligwerden wegen derselben Beschwerde. (Wer laufend mit anderen Krankheiten erscheint, gilt eh als Simulantin.)
Versuche eine Fachärztin zu bekommen
Wenn die Ärztin bereit ist, das Leiden überhaupt ernst zu nehmen, kommt es nicht darauf an, eine Untersuchung oder Behandlung bei ihr zu erreichen, sondern zu einer Fachärztin zu kommen. Knastärztinnen sind meistens nicht nur restlos gleichgültig, sondern auch noch total unfähig: Oft sind sie ehemalige Militär- oder gescheiterte Privatärztinnen.
Hier empfiehlt sich jedoch eine andere Vorgehensweise als bei der Sanitäterin oder den Beamtinnen: Während man versuchen kann, Letztere mit einer sicher vorgetragenen Selbstdiagnose zu verunsichern (um so z. B. an Schmerzmittel ranzukommen), würde man die Ärztin damit nur gegen sich aufbringen. Sie ist die Ärztin, und sie will diagnostizieren. Sie lässt sich von einer gefangenen Patientin nicht vorschreiben, was sie zu tun hat. Wenn du sagst: Ich habe Magengeschwüre, wird sie dir am Magen herumdrücken und herablassend lächelnd irgendetwas gegen Magenschmerzen verschreiben. Wenn du hingegen die Symptome von Magengeschwüren schilderst und sie erwartungsvoll anschaust, wird sie dir mit sorgenvoller Miene eröffnen, dass du vielleicht Magengeschwüre hast. Dann musst du sie fragen, ob es denn unbedingt erforderlich ist, geröntgt zu werden – ob sie das nicht auch mit Pillen behandeln könne. Sie wird dir sagen, dass es doch schon sicherer ist, den Magen zu röntgen ... Auf diese Weise lässt sich mit einiger Energie und taktischem Geschick eine Ausführung zu einer Fachärztin erreichen. Natürlich klappt das nicht bei jeder Ärztin. Manche gibt erst nach, wenn man sie massiv damit bedrängt, dass man sich an Medizinerinnen draußen oder an die Presse wendet und dass man notfalls auch bereit ist, sie wegen unterlassener Hilfeleistung anzuzeigen. Wie man sonst noch an eine externe Ärztin herankommen kann, kannst du weiter unten nachlesen.
Schmerzen am „arztfreien“ Tag oder nachts
Wenn man an einem arztfreien Tag oder nachts von Schmerzen überfallen wird, muss man die „Fahne“ (die in jeder Zelle befindliche Notrufgegensprechanlage oder den Notrufknopf) betätigen. Man schildert dann der Beamtin, die man über die Sprechanlage erreicht oder die kommt, was einer fehlt. Die verspricht dann, „gleich“ eine Sanitäterin vorbeizuschicken. Das kann jedoch Stunden dauern. Wenn man wirklich akute Schmerzen hat, empfiehlt es sich, sich nicht von unwirschen Zurechtweisungen und Versprechungen von Seiten der diensttuenden Beamtin abschrecken zu lassen, sondern immer wieder (zumindest alle Viertelstunde) die Fahne zu drücken und am besten auch noch gegen die Tür zu trommeln, so dass auch die Gefangenen in den Nachbarzellen sich beschweren. Nur so hat man einige Gewähr, dass in absehbarer Zeit tatsächlich eine Sanitäterin erscheint. Im Folgenden zeigen wir an einem konkreten Beispiel, wie man sich mit seiner Krankheit und der Gefängnisärztin auseinandersetzen kann:
Du spürst etwas
Jede Krankheit beginnt irgendwann einmal. Es kann sein, dass du lange ihre ersten Anzeichen übersehen hast, bis die Signale eines Tages unüberhörbar werden, die dir dein Körper schickt. Hier soll jetzt beschrieben werden, was eine Gefangene im Knast tun kann, wenn sie solche Symptome, die nicht gleich, wie bei den akuten Notfällen, unübersehbar sind, an sich bemerkt. Dazu nehmen wir ein Beispiel: Gesetzt den Fall, du bemerkst eines Tages, dass deine beiden Kniegelenke bei Kniebeugen knacken und ziemlich deutlich knirschen. Irgendetwas ist damit nicht in Ordnung. Aber du hast keine Schmerzen. Es hört sich so an, als ob in deinem Kniegelenk die „Schmiere“ fehlt. Du meldest dich bei der Ärztin. In dem Antrag auf Ärztinnenbesuch solltest du gleich ausführlich deine Symptome beschreiben. Wenn der Knastvormelder nicht ausreicht, um deine Symptome zu beschreiben, kannst du ruhig noch weitere Blätter benutzen und alles zusammen in einen Umschlag stecken (s. o.).
Du könntest schreiben:
„Die beiden Kniegelenke knacken und knirschen, wenn sie wie bei Kniebeugen in einem größeren Winkel bewegt werden. Schmerzen spüre ich keine. Manchmal spüre ich bei Bewegungen im Gelenk eine geringe, kaum wahrnehmbare Hemmung. Das Symptom habe ich vor meiner Inhaftierung noch nicht bemerkt. Es kann auf den ständigen Bewegungsmangel und die damit verbundene mangelnde Durchblutung zurückzuführen sein.“
Du gehst zur Ärztin
Du wirst dann an einem der nächsten Tage von einer Grünen zu der Ärztin geführt. Möglicherweise kommt sie auch zu dir auf die Zelle. Sie wird deinen Brief durchlesen und dann dein Gelenk untersuchen. Du wirst ihr vorführen, wie das Geräusch entsteht, und wenn sie nicht schwerhörig ist, wird sie es auch hören. Sie wird das Gelenk an beiden Beinen betasten und es hin und her bewegen, wird mit ihrem Reflexhammer draufklopfen und dann sagen, dass sie nichts feststellen kann. Damit wärst du normalerweise abgefertigt, wenn nicht dein Brief in der Krankenakte wäre. Die Ärztin schickt dich zum Röntgen. Von deinen beiden Gelenken werden je zwei Aufnahmen gemacht. Du sollst in einer Woche wiederkommen. Du wartest, und nach einer Woche meldest du dich wieder bei der Ärztin. Sie sagt dir, die Röntgenaufnahmen sind fertig, und sie geht schnell nach nebenan, um sie sich anzusehen. Dann kommt sie wieder und sagt, sie könne darauf nichts erkennen, aber sie würde sie zur Röntgenologin schicken. Nach einiger Zeit ist auch der Bescheid der Röntgenologin da. Sie konnte keine krankhafte Veränderung im Gelenk feststellen. Hier darfst du nicht den Fehler machen, diese Auskunft einfach hinzunehmen. Lass dir den Befund der Röntgenologin zeigen, lies genau, was draufsteht, lass es dir erklären. Nachdem man dir also gesagt hat, dass nichts Krankhaftes an deinen Gelenken festzustellen ist − obwohl es kein gesundes Gelenk gibt, das knirscht −, bist du nahe dran aufzugeben. Das wäre aber ein Fehler. Denn die ersten, oft harmlos wirkenden Anzeichen von Krankheiten sind meistens von praktischen Ärztinnen und erst recht von den Knastärztinnen überhaupt nicht zu erkennen. Auch Röntgenaufnahmen sagen oft nur der Fachärztin etwas, und selbst die Spezialärztinnen können sich über solche Anzeichen auf Röntgenaufnahmen uneins sein, ebenso wie über die Deutung geringfügiger Symptome, die sich noch nicht endgültig zu einer eindeutigen Krankheit ausgewachsen haben.
Außerdem: Manche Krankheiten können nur im Frühstadium geheilt werden. Obwohl die Ärztin offenbar nicht weiß, was mit deinem Gelenk los ist, verschreibt sie dir eine Salbe, die du dreimal am Tag draufschmieren sollst. Sie besteht aus verdünntem Bienengift und soll die Durchblutung anregen. Du kannst die Salbe ohne weiteres verwenden, wenn du ihre Zusammensetzung und ihre Wirkung kennst. Bei Medikamenten, die dir unklar sind: Vorsicht! Und erst recht dann, wenn offensichtlich noch nicht einmal klar ist, was du eigentlich hast. In diesem Fall: Nimm diese Medikamente lieber nicht. Bestehe immer darauf, den Namen des Medikaments genannt zu bekommen. Merke ihn dir, schreibe ihn auf. Erkundige dich bei Freundinnen und Ärztinnen draußen.
Ärztin und Patientin
Immer wenn man mit Ärztinnen zu tun hat, befällt einen ein leichter Wahn − der Wahn des Respekts und der Wahn der eigenen völligen Ohnmacht. Das geht so weit, dass man erstarrt. Man fühlt sich so, als wäre man „weggetreten“. Im Umgang mit anderen Menschen benimmt man sich einigermaßen lebendig − im Umgang mit Ärztinnen wirkt man wie eine Leiche: starr, sagt nichts, lässt alles mit sich machen. Aus demselben Grund werden „falsche Ärztinnen“ oft erst nach vielen Jahren entlarvt. Es umgibt die Ärztinnen ein heiliger Schein.
So ist es dir bei der Ärztin ergangen, und nachher ärgerst du dich drüber
Du ärgerst dich vor allem, weil du nichts gefragt hast. Das lag nicht nur daran, dass es zu schnell ging, sondern dass du wie erstarrt warst. Du hättest Fragen sollen, worauf ein solches Symptom wie das Knacken im Gelenk hinweisen kann, woher es kommen kann. Du hättest sagen müssen, dass eine Fachärztin (in diesem Fall eine Orthopädin) das Gelenk untersuchen soll, dass du zu dem Zweck eine Ausführung beantragst. Du hättest dir auch die Röntgenbilder zeigen lassen sollen. Schließlich sind das deine Beine, und du hast ein Recht, selbst zu sehen, was damit ist − noch dazu sind Röntgenaufnahmen wegen der damit verbundenen Strahlenbelastung des Körpers nicht ohne Risiko, also müssen sie für dich auch einen Wert haben, und den haben sie nur, wenn du sie auch betrachten kannst. Du hättest fragen sollen, warum die Ärztin dir eine Bienengiftsalbe verschreibt, wozu die gut sein soll, was sie an deinem Gelenk ändern soll. Du hättest fragen müssen, ob der Schaden am Gelenk auf mangelnde Bewegung zurückzuführen ist, und falls die Ärztin dem zustimmte, hättest du darüber ein schriftliches Attest verlangen sollen. All das hast du nicht getan, weil du dich, sobald du bei der Ärztin eingetreten bist, in eine bescheuerte „Patientin“ verwandelt hast.
TIPP: Daher ist es ratsam, sich die Zeit zu nehmen, vor dem Ärztinnenbesuch eine Liste mit Fragen vorzubereiten. Du kannst diese Liste ruhig der Ärztin auch vorlesen. Letztendlich geht es um dich, ob die Ärztin genervt ist, kann dir egal sein. Du bist keine Spezialistin und brauchst Hilfe.
Beim nächsten Hofgang redest du mit einer Mitgefangenen über die Sache.Du erfährst, dass es ihr genauso gegangen ist. Und dass man von dieser Ärztin immer nur hört, was man nicht hat, nie aber, was man hat. Wenn die Schmerzen im Magen zu spüren sind, sind es „Muskelschmerzen“. Es sind aber auch „Muskelschmerzen“, wenn sie woanders zu spüren sind. Die Knastärztinnen scheinen sich, jede für sich, irgendwie auf bestimmte Krankheiten spezialisiert zu haben. Diese hier hat sich auf Muskelschmerzen spezialisiert. Sie findet sie bei jeder Zweiten, schließlich sind Muskeln überall. Und gegen Muskelschmerzen braucht es keine Therapie, weil sie von selbst wieder vergehen. So wie die Schmerzen, die sie feststellt, immer dieselben sind, sind auch die Medikamente oft dieselben. Sie scheinen überall zu wirken: am Kopf, am Fuß, genauso im Bauch, am Rücken − es sind immer dieselben Pillen. Nachdem dir klargeworden ist, dass du nie erfahren wirst, was du hast, wenn du dich auf diese Ärztin verlässt, stellst du einen Antrag auf Untersuchung bei einer Fachärztin (s. u.). Dazu brauchst du die Zustimmung der Anstaltsärztin. Da sie sie ungern geben wird, ist es zweckmäßiger, ihr wieder einen Brief zu schicken, den sie in ihre Krankenakte einheften muss (überhaupt solltest du immer dafür sorgen, dass in ihrer Akte hauptsächlich deine Angaben sind, und nicht ihre!). Du beschreibst in dem Brief, dass du über die Symptome, die du bemerkst, beunruhigt bist, weil sie möglicherweise auf eine später nicht mehr heilbare Gelenkerkrankung hinweisen. Ist die Ärztin eine besonders sture Ziege, kannst du noch hinzufügen: Eine Verweigerung der fachärztlichen Untersuchung müsstest du als vorsätzliche Körperverletzung betrachten, da aus einer später nicht mehr heilbaren Gelenkerkrankung für dich eine lebenslange Invalidität erwachsen kann. Wenn es dir möglich ist, besorgst du dir jetzt von draußen oder wenigstens aus der Anstaltsbücherei Bücher über Krankheiten. Vielleicht findest du irgendwo einen Hinweis auf speziellere Bücher, oder du lässt dir ein spezielles Buch über Gelenkkrankheiten von draußen besorgen.
Du beginnst dein Symptom zu studieren
Dazu ist allerdings zu sagen, dass man sich dabei auch leicht verirren kann. Jede von uns kennt den Effekt, dass man glaubt, man hat Krebs, wenn man nur ein Buch über Krebs gelesen hat. Und man glaubt, man hat Schizophrenie, wenn man nur ein Buch über Schizophrenie gelesen hat. Man sollte sich also ruhig etwas Zeit lassen und nicht immer glauben, man hätte schon das, was man gerade gelesen hat. Außerdem sind nicht nur eine Vielzahl von Krankheiten bei einem solchen Symptom möglich, sondern jede Krankheit hat ihre Individualität und tritt bei jeder anders auf, das heißt: Sie ist nicht einfach „die“ Krankheit, wie sie im Buch steht, sondern es ist „deine“ Krankheit. Sie ist so typisch, wie dein Körper typisch für das Menschengeschlecht ist, aber auch so untypisch wie dein eigenes Leben im Verhältnis zum Leben aller übrigen Menschen. Es könnte auch sein, dass die Krankheit viel mehr mit deinem ganzen Leben als mit deinen Knochen oder anderen Organen zu tun hat − und dass dein Körper nur der Resonanzboden für einen seelischen, depressiven Grundton ist, der von deinem Denken und Fühlen ausgeht.
Wie man an eine Ärztin von draußen rankommt
Für Gefangene, die sich medizinisch nicht richtig behandelt fühlen und folglich das Vertrauen zu den Gefängnisärztinnen verloren haben, stellt sich die Frage: Wie komme ich an eine externe Ärztin heran?
Durchsetzung einer medizinischen Betreuung
Nach allgemeinen „rechtsstaatlichen“ Grundsätzen hat die Gefangene Anspruch auf ausreichende medizinische Versorgung, die den „Regeln der ärztlichen Kunst“ und dem aktuellen medizinischen Wissensstand entspricht. Um das auch wirklich nur annähernd zu erreichen, muss man sehr beharrlich bohren und darf nicht nachlassen, zu beantragen und zu mahnen.
Grundsätzlich haben Gefangene – die sich nicht in einem freien Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Anstalt befinden (Freigängerinnen) – keinen Anspruch auf Behandlung durch eine Ärztin ihrer Wahl. Sie sind damit auf die Heilbehandlung durch die Knastärztin angewiesen. Eine freie Ärztinnenwahl wie außerhalb des Vollzugs gibt es also nicht.
Wenn überhaupt, so wird die Ärztin von draußen nur zur Untersuchung und Beratung hinzugezogen, nicht aber zur Alleinbehandlung und nur wenn die hinzugezogene Ärztin und die Anstaltsärztin untereinander von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden werden. Hat die Knastärztin selbst die Hinzuziehung einer externen Ärztin veranlasst, z. B. weil ihr die Fachkenntnisse oder die nötigen technischen Einrichtungen fehlen, übernimmt die Kosten die Vollzugsbehörde. Wenn die Behandlung durch eine Ärztin von draußen durch dich veranlasst wird, musst du die Kosten für die externe Ärztin übernehmen.
Dies ist aber immer noch besser, als sich allein auf die Gefängnisärztin verlassen zu müssen. Denn die zweite Ärztin übt dann praktisch eine Kontrolle aus, die nicht ohne Folgen bleibt. Trotzdem wird man vorsorglich beantragen, von der externen Ärztin auch voll behandelt zu werden. Das Gericht oder die Anstaltsleitung, die die Entscheidung über die Zulassung einer externen Ärztin hinauszögert, muss täglich darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihre Entscheidung die Gesundheit eines Menschen betrifft und dass sie kein Recht hat, einem Menschen auch nur für kurze Zeit die gebotene ärztliche Hilfe zu entziehen.
Wenn man bereits vor der Inhaftierung in ärztlicher Behandlung war, kann – und sollte – sich die Knastärztin mit der behandelnden Ärztin in Verbindung setzen, sofern man dem zugestimmt hat und eine Schweigepflichtentbindung unterschrieben hat. Grundsätzlich gilt, dass begonnene (notwendige) medizinische Behandlungen fortgesetzt werden.
Wenn die zuständige Instanz, d. h. das zuständige Gericht oder die Anstaltsleitung1, die Hinzuziehung einer externen Ärztin erstmal genehmigt hat, gibt es keinerlei rechtmäßige Möglichkeit mehr, die Arbeit der externen Ärztin zu behindern. Trotzdem muss manchmal jede Kleinigkeit mit einem Antrag oder einer Beschwerde durchgesetzt werden. In diesem Zusammenhang sollte man auch ruhig ankündigen, wegen der katastrophalen medizinischen Versorgung im Knast an die Presse zu schreiben. Bevor man eine externe Ärztin beantragt, muss man auf jeden Fall erst einmal zu der Anstaltsärztin gehen, um sich von ihr untersuchen zu lassen. Ansonsten kann man schlecht sagen, die medizinische Versorgung in der Anstalt sei unzureichend. Außerdem wird sonst der Antrag sicherlich nicht genehmigt, und du wirst zuerst zu der Knastärztin geschickt, was dann die Sache nur noch verzögert. Die Anstaltsärztin muss bei dem Antrag auf eine externe Ärztin gefragt werden und wird keine Stellungnahme abgeben, wenn sie dich noch nicht gesehen hat.
Wenn du aus irgendeinem Grund stationär im Krankenhaus aufgenommen werden musst, wirst du in der Regel im Knastkrankenhaus untergebracht. Hierfür können sie dich auch in eine andere Haftanstalt verlegen. Wenn es aber nicht die Möglichkeit gibt, dich im Haftkrankenhaus ordentlich zu behandeln, kannst du auch in ein externes Krankenhaus verlegt werden. Dann musst du aber damit rechnen, dass du für die Zeit im externen Krankenhaus gefesselt und/oder bewacht wirst.
Wir wollen nun kurz beschreiben, wie man am besten vorgeht, um eine externe Ärztin zu bekommen:
Kontaktaufnahme mit der Ärztin
Bevor man sich mit dem Gericht oder der Anstalt über eine externe Ärztin auseinandersetzt, muss man sich erstmal um eine kümmern, die eine auch behandeln will. Am besten, man fragt seine alte Hausärztin − wenn die nicht gerade ihre Praxis in München hat und du in Hamburg im Knast sitzt. Oder man fragt Freundinnen, Verwandte, Rechtsanwältinnen, Sozialarbeiterinnen, Gefängnispfarrerinnen nach einer Ärztin − gegebenenfalls Fachärztin −, die auch Gefangene behandelt, was leider längst nicht alle machen. In manchen Städten gibt es auch schon Ärztinnengruppen, die Gefangene kostenlos medizinisch untersuchen und beraten. Vielleicht macht das ja mal Schule bei anderen Ärztinnen! Wenn du nun eine Adresse herausbekommen hast, schreibst du am besten gleich der Ärztin, dass du Gefangene in dem und dem Knast bist und gern von ihr behandelt werden möchtest. In dem Schreiben informierst du die Ärztin so genau wie möglich über:
Der Antrag auf Hinzuziehung einer externen Ärztin
Wenn die angeschriebene Ärztin sich bereit erklärt, dich zu behandeln, dann musst du oder deine Anwältin bei der zuständigen Stelle die „Hinzuziehung“ der externen Ärztin beantragen. D. h., du beantragst eine Ärztin, die in erster Linie die Knastärztin in deiner Behandlung unterstützen, beraten und damit auch kontrollieren soll. Anders ist es erstmal juristisch schwer durchsetzbar. Der Antrag muss sowohl in der Strafhaft als auch in der U-Haft an die Anstaltsleitung gestellt werden. In diesem Antrag solltest du deine Beschwerden genau − ruhig ein bisschen drastisch − schildern, aber nicht zu dick auftragen, denn sonst glaubt dir keine. Schreib dazu am besten dasselbe wie an die externe Ärztin (s. o.). Dann musst du ausführen, dass du eine Spezialistin zur Behandlung deiner Krankheit benötigst und/oder dass du kein Vertrauen mehr in die Anstaltsärztin hast, weil ungenügende Behandlung usw. oder weil sie deine Beschwerden nicht ernst nimmt oder die Beschwerden einfach nicht besser werden und deswegen die von der Knastärztin vorgeschlagene Therapie nichts bringt. Am besten, man beantragt gleich die „Ausführung zur Durchführung einer ärztlichen Untersuchung durch eine beratende, externe Ärztin“, denn das kommt dir und ihr zugute. Für dich ist es immer besser, in der Praxis einer externen Ärztin untersucht zu werden, denn die ist sicherlich besser ausgestattet als das Knastärztinnenzimmer. Bei der Ausführung siehst du außerdem wieder was von der „Welt“. Wollen sie dir eine solche Ausführung nicht genehmigen, weil sie die Erforderlichkeit z. B. für externe Räumlichkeiten nicht sehen, kannst du jedenfalls die „Genehmigung eines überwachten Sonderbesuchs zur Durchführung einer ärztlichen Untersuchung durch eine beratende, externe Ärztin“ beantragen.
Die Anstalt und insbesondere auch die Anstaltsärztin müssen zu deinem Antrag eine Stellungnahme schreiben, in der Sicherheitsbedenken gegen eine Ausführung aufgeführt werden (Fluchtgefahr, Personalknappheit etc.). Versuch es aber trotzdem, denn die Behandlung im Knast kann ja dann immer noch genehmigt werden. Wichtig bei deinem Antrag ist, dass du es so ausführlich wie möglich darstellst, dass deine Krankheit eine Spezialistinnenbehandlung notwendig macht und deshalb die Behandlung durch die Anstaltsärztin nicht ausreicht! Da die Anstaltsärztin und die Anstaltsleitung dich in ihrer Stellungnahme vielleicht (die Erfahrung sagt: meistens) als Simulantin (d. h. Vortäuscherin von Krankheiten) bezeichnen, lege deinem Antrag an die Anstaltsleitung am besten ein Schreiben einer oder mehrerer Mitgefangenen bei, die darin deine Angaben über deinen Gesundheitszustand bestätigen. Das hilft zwar im Moment noch nicht viel, erschwert allerdings der Anstalt, dich so einfach als Simulantin und Lügnerin hinzustellen. Mache von deinem Antrag einige Durchschläge und schicke ein Exemplar an Freundinnen und Verwandte draußen, damit die auch wissen, was du unternommen hast, und dann eventuell mit Unterstützung der Ärztin draußen etwas Druck ausüben können, zum Beispiel durch Telefonate oder Briefe an die Anstaltsleitung und an die Anstaltsärztin. Manche Gefängnisärztinnen haben draußen auch noch eine eigene Arztpraxis. Möglicherweise hilft es, wenn Angehörige oder Freundinnen dort einmal vorsprechen. Falls du keine Anwältin hast, die den Antrag für dich stellt, können die folgenden Musterentwürfe eine Orientierungs- und Argumentationshilfe sein:
Musterentwurf – U-Haft:
An die Leiterin der Justizvollzugsanstalt …
Untersuchungsgefangene …, geb. … (Az. …; Gefangenenpersonalnummer … )
Antrag auf Behandlung und Ausführung zu einer beratenden Ärztin
[Anrede]
ich beantrage,
mir zu gestatten, mich durch die externe Ärztin Dr. ... (Adresse, Telefonnummer) untersuchen und gegebenenfalls behandeln zu lassen. Die Untersuchung und Behandlung soll in der Praxis der Dr. ... durchgeführt werden.
Begründung:
I.
Ich befinde mich seit dem ... in der Untersuchungshaft in der JVA ... .
(Jetzt genau die Entwicklung der Krankheit schildern und die mangelhafte Behandlung durch die Ärztin und wieso die Ärztin von draußen dazu geeignet ist, dir zu helfen, und dass sie sich bereits dazu bereit erklärt hat. Am besten dazu den Brief an die externe Ärztin als Vorlage nehmen und, wenn du sowas hast, Ferndiagnosen oder Behandlungsvorschläge der externen Ärztin beifügen.)
Aus den dargelegten Gründen erscheint mir eine ausreichende Behandlung meiner Krankheit durch die medizinische Einrichtung in der JVA ... nicht gegeben. Außerdem halte ich eine Hinzuziehung der Dr. ... als Spezialistin für solche Krankheiten für unbedingt notwendig.
II.
Nach § 24 Abs. 3 UVollzG NRW ist es der Beschuldigten gestattet, eine externe Ärztin freier Wahl als Beraterin hinzuzuziehen. Um meine dringend notwendige medizinische Behandlung nicht weiter zu verzögern, bitte ich um die Genehmigung einer Ausführung in die Praxis von Frau Dr. zur Durchführung der erforderlichen medizinischen Untersuchung.
Die staatliche Fürsorgepflicht, der die U-Gefangene unterliegt, beinhaltet eine ausreichende ärztliche Versorgung. Diese ausreichende ärztliche Versorgung ist an dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, zu messen. Meine körperliche Unversehrtheit ist allein durch die Behandlung meiner Krankheiten durch die Anstaltsärztin nicht mehr gewährleistet. Daher muss die Hilfe einer externen Spezialistin in Anspruch genommen werden. Die staatliche Fürsorgepflicht verpflichtet außerdem alle mit dem Vollzug befassten Behörden (also auch Sie als Anstaltsleiterin), der Verhafteten das Erforderliche zur Verfügung zu stellen, was sie sich wegen der Anstaltsgebundenheit im Allgemeinen nicht selbst verschaffen kann. Darunter fällt auch eine ärztliche Betreuung, die den Grundwerten des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz gerecht wird. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein in Freiheit befindlicher Mensch im Krankheitsfall für eine bestmögliche Behandlung seiner Beschwerden sorgt. Nach Art. 6 Abs. 2 Menschenrechtskonvention ist eine Untersuchungsgefangene bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig anzusehen und dementsprechend zu behandeln. Deswegen kann die beantragte Genehmigung nach § 24 Abs. 3 UVollzG NRW nur aus räumlichen, organisatorischen oder personellen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt versagt werden. Es ist nicht ersichtlich, wie die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt durch meine Konsultierung einer externen Ärztin gestört werden sollte. Außerdem hat sich grundsätzlich die Realisierung von Grundrechten einer Gefangenen (hier Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht nach den anstaltsinternen Möglichkeiten zu richten, sondern vielmehr andersherum (vgl. BVerfGE 15, 296). Es kann somit auch nicht eine pauschal behauptete eventuelle Personalknappheit in der Anstalt o. Ä. einen Hinderungsgrund meiner ärztlichen Betreuung durch Dr. ... darstellen.
III.
Für die Kosten für die Hinzuziehung der Dr. sowie der Ausführung komme ich selbst auf. Eine Erklärung zur Entbindung über die Schweigepflicht gegenüber allen behandelnden Ärztinnen habe ich beigefügt.
IV.
Aus den dargelegten Gründen ist eine Hinzuziehung der Dr. ... als Spezialistin in meinem Fall unbedingt notwendig. Ich bitte zur Vermeidung bleibender Gesundheitsschäden beschleunigt zu entscheiden.
Unterschrift
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Musterentwurf – Strafhaft:
Name: Datum:
z. Zt. JVA ...
Gefangenenbuchnummer:
An die Leiterin der Justizvollzugsanstalt …
Ich beantrage,
zur Behandlung meiner Krankheit Frau Dr. ..., Adresse, Telefonnr. als beratende und gegebenenfalls behandelnde Spezialistin hinzuzuziehen.
Die Untersuchung und Behandlung soll im Wege der Ausführung in der Praxis der Dr. ... durchgeführt werden.
Hilfsweise beantrage ich,
die Untersuchung und Behandlung in der JVA durchzuführen.
Begründung:
I.
Ich befinde mich seit dem ... in Strafhaft in der JVA ...
(Jetzt genau die Entwicklung der Krankheit schildern und die mangelhafte Behandlung durch die Ärztin darstellen und wieso die Ärztin von draußen dazu geeignet ist, dir zu helfen, und dass sie sich bereits dazu bereit erklärt hat. Am besten dazu deinen eigenen Brief an die externe Ärztin, in dem du deine Beschwerden schilderst, als Vorlage nehmen und, wenn du sowas hast, Ferndiagnosen oder Behandlungsvorschläge der externen Ärztin beifügen.)
II.
Aus den dargelegten Gründen ist eine ausreichende Behandlung meiner Krankheit durch die Anstaltsärztin Frau Dr. ... nicht mehr gegeben. Frau Dr. ... (Anstaltsärztin) ist durch die Komplexität meiner Krankheit sowohl zeitlich als auch fachlich überfordert.
Erschwerend kommt hinzu, dass Frau Dr. ... (Anstaltsärztin) wegen ihrer oberflächlichen und wirkungslosen Behandlung meiner Krankheit nicht mehr mein Vertrauen besitzt, das ich als Patientin einer Ärztin zur Durchführung einer positiven Behandlung notwendigerweise entgegenbringen können muss. Daher halte ich die Hinzuziehung der Frau Dr. ... als Ärztin meines Vertrauens und als Spezialistin für solche Krankheiten für unbedingt notwendig.
Ich bitte zur Vermeidung bleibender Gesundheitsschäden, diesen Antrag beschleunigt zu entscheiden.
Unterschrift
Die Anstalt verlangt meistens (in NRW ist das in der U-Haft sogar zwingende Voraussetzung), dass du vor einer Untersuchung durch eine Ärztin von draußen diese sowie die Anstaltsärztin von der Schweigepflicht untereinander entbindest. Das heißt, dass die Anstaltsärztin das Ergebnis der Untersuchung erfahren soll. Andererseits kann nur so die Ärztin von draußen deine Krankenakte bekommen, deren Inhalt sicher auch für dich nicht uninteressant ist. Es ist unter Umständen sinnvoll, auch noch die Rechtsanwältin in die Schweigepflichtentbindung miteinzubeziehen, wenn sie sich um die Durchsetzung deiner medizinischen Betreuung kümmert. Die Schweigepflichtentbindungserklärung kann aber jederzeit widerrufen werden, etwa wenn du nach der Untersuchung durch die Ärztin von draußen aus irgendwelchen Gründen nicht willst, dass die Anstalts-
ärztin darüber informiert wird.
Dass sie dich wie in NRW zur Schweigepflichtentbindung der behandelnden Ärztin zwingen, ist insbesondere wegen der in Untersuchungshaft geltenden Unschuldsvermutung eine verfassungswidrige Einschränkung deiner Rechte. Wenn du besondere Gründe hast, eine solche Entbindung von der Schweigepflicht nicht zu erteilen, solltest du darüber mit deiner Anwältin sprechen und versuchen, eine Ausnahme zu erwirken.
Händige die Schweigepflichtentbindungserklärungen den jeweiligen Leuten aus, die sie betreffen, oder schicke sie einfach deiner Anwältin, die kann sie dann verteilen.
an die Ärztinnen:
Schweigepflichtentbindungserklärung
Hiermit entbinde ich sämtliche mich behandelnde Ärztinnen der Justizvollzugsanstalt und des Justizvollzugskrankenhauses in ... sowie von diesen hinzugezogene Ärztinnen gegenüber Frau Dr. … und gegenüber meiner Rechtsanwältin Frau … umfassend von ihrer ärztlichen Schweigepflicht. Gleichzeitig entbinde ich Frau Dr. … ihrerseits von der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber dem genannten Personenkreis. Die Entbindung der Schweigepflicht erstreckt sich auch auf die Aushändigung sämtlicher ärztlicher Berichte, Krankenunterlagen, Röntgenaufnahmen und aller hiermit in Zusammenhang stehenden Unterlagen.
Datum: Unterschrift:
an die Rechtsanwältin:
Schweigepflichtentbindungserklärung
Hiermit entbinde ich Frau Rechtsanwältin ... gegenüber den mich behandelnden Ärztinnen von der anwaltlichen Schweigepflicht bezüglich der ihr bekannten und bekannt werdenden Tatsachen meiner Krankheit und der damit zusammenhängenden weiteren Tatsachen.
Datum: Unterschrift:
Bei Verzögerung oder Ablehnung deines Antrags
Setze alle dir zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ein bzw. hilf deiner kranken Mitgefangenen dabei. Du kannst dabei nach dem weiter unten in Kapitel 21 ff. zusammengestellten „Rechtsmittelteil“ vorgehen. Du kannst für die Begründungen der Rechtsmittel im Prinzip die gleichen Argumente verwenden, die du bereits in deinem Antrag auf Hinzuziehung einer externen Ärztin vorgebracht hast, und dich dabei an den oben abgedruckten Musterbeispielen orientieren.
Antrag auf einstweilige Anordnung (Eilantrag in der Strafhaft)
Wenn du sehr starke Schmerzen hast, gegen die du keine Schmerzmittel bekommst oder keine andere sinnvolle Behandlung vorgenommen wird, kannst du auch noch dazu einen Antrag auf einstweilige Anordnung an die zuständige Strafvollstreckungskammer gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 Strafvollzugsgesetz stellen. Dieser Antrag muss von der Strafvollstreckungskammer sofort entschieden werden und bedeutet für dich die einzige juristische Möglichkeit, vor Abschluss des „Instanzenweges“ − d. h. also relativ schnell − an eine externe Ärztin zu kommen.
Ein Beispiel für einen solchen Antrag:
Name JVA ...
Gefangenenbuchnummer
An das Landgericht in ...
Strafvollstreckungskammer Datum
EILANTRAG
Ich beantrage,
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 Strafvollzugsgesetz zu verfügen, dass mir die Untersuchung durch die externe Ärztin Dr. ... gestattet und die Durchführung umgehend ermöglicht wird.
Außerdem beantrage ich, die Gewährung einer Prozesskostenhilfe gemäß § 114 ff. ZPO (Zivilprozessordnung).
Ich befinde mich seit dem ... in der JVA .... in Strafhaft.
(Hier jetzt genau deine Schmerzen schildern, wie in dem Brief an die Ärztin, die unzureichende Behandlung durch die Knastärztin, die Verweigerung der Hinzuziehung einer externen Ärztin durch die Anstaltsleitung, deinen momentanen Zustand. Beschreib das ruhig etwas drastisch. Benenne Mitgefangene als Zeuginnen. Lege schriftliche Zeuginnenaussagen am besten als „eidesstattliche Versicherungen“ dazu, die die Beobachtungen von Mitgefangenen oder Besucherinnen wiedergeben.)
Mein oben dargelegter kritischer Gesundheitszustand bedarf dringend sofortiger fachärztlicher Behandlung, die mir von der Anstaltsleitung rechtswidrig verweigert wird. Der Antrag ist wegen seiner außerordentlichen Eilbedürftigkeit und zur Vermeidung bleibender und irreparabler gesundheitlicher Schäden hinsichtlich des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 Strafvollzugsgesetz begründet. Die angefochtene Ablehnungsverfügung der Anstaltsleitung vom ... verletzt die Bestimmungen der §§ 45, 46 Strafvollzugsgesetz NRW sowie der Art. 1 Abs. 1, 1 Abs. 3, 2 Abs. 2, 19 Abs. 1, 19 Abs. 2 und 104 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
(Weitere Ausführungen wie im Antrag an die Anstaltsleitung)
Unterschrift
Versprich dir aber nicht zu viel von solch einem Antrag, denn meistens glauben die Richterinnen den Behauptungen der Anstaltsleitung und der Gefängnisärztin, aber wenn es dir wirklich sehr dreckig geht, versuche, so einen Antrag noch zusammenzukriegen. Lass dir dabei am besten von einer anderen Gefangenen helfen. Eigentlich sollte es eine Anwältin übernehmen.
Noch ein besonderer „Trick“, vor allem für die Rechtsspezialistinnen unter den Gefangenen oder für die Anwältinnen: das Beweissicherungsverfahren. Es ist nicht einfach und bisher nur selten ausprobiert worden, so dass es kaum Erfahrungen damit gibt. Es kann aber ein sinnvoller letzter Versuch sein, doch noch an eine Ärztin von draußen ranzukommen, wenn der normale Rechtsweg erfolglos war. Mit Hilfe des Beweissicherungsverfahrens kann eine (angeblich) verfolgte Schadensersatzklage (Schmerzensgeld) als Vehikel benutzt werden, um von einer vernünftigen Ärztin wenigstens mal gründlich untersucht zu werden. Allerdings auf deine eigenen Kosten, die unter Umständen ans Gericht vorgeleistet werden müssen. Beantrage eine Prozesskostenhilfe und lies dazu Näheres in →Kapitel 26 Rechtsmittelkosten und Prozesskostenhilfe nach. Das Beweissicherungsverfahren kann man in Zusammenhang mit einer Schadenersatzklage gegen das jeweilige Bundesland wegen Körperschäden etc. beantragen. Es dient dazu, deinen Gesundheitszustand als „Beweis“ festzustellen, damit du später für diese Schadenersatzklage nachweisen kannst, dass dein Gesundheitsschaden auf schlechte ärztliche Behandlung im Gefängnis basiert. Eine solche Schadensersatzklage kommt natürlich selten oder nie durch, jedoch muss man erstmal behaupten, eine solche machen zu wollen, damit überhaupt ein Beweissicherungsverfahren möglich ist.
Wie läuft das?
Gemäß § 485 Zivilprozessordnung kann auf deinen Antrag ein Beweissicherungsverfahren vom Gericht angeordnet werden. Der Antrag muss ausführlich begründet werden mit den Behauptungen: Dein Körperschaden, weswegen du klagen willst, sei natürlich veränderlich, und deshalb müsste der momentane Zustand festgestellt werden, da du wegen der jetzigen Versagung der ärztlichen Versorgung im Moment große Schmerzen hättest und zumindest Schmerzensgeld einklagen wolltest. Du hast ein „rechtliches Interesse“ an der fachärztlichen Feststellung deines Gesundheitszustandes, da diese Feststellung für dich das einzige Beweismittel in einem Schadensersatzprozess gegen das betreffende Bundesland ist. Für Schadensersatzklagen gegen den Staat, sogenannte Amtshaftungsprozesse, ist zwar immer das Landgericht zuständig. In Fällen dringender Gefahr, wie es bei dir dann einer wäre, ist das Gericht zuständig, in dem die zu begutachtende Person sich aufhält, also das Amtsgericht, das für den Bezirk zuständig ist, in dem du in U-Haft sitzt.
Der Antrag für ein solches Beweissicherungsverfahren kann etwa so aussehen:
An das Amtsgericht in ...(Datum)
Im Rahmen der Verfolgung meiner
Schadensersatzansprüche wegen Amtspflichtverletzung
gegen
das Land Hessen (Bayern etc.), vertreten durch die Ministerpräsidentin, Wiesbaden (München etc.)
beantrage ich,
im Wege der Beweissicherung − ohne mündliche Verhandlung − das (fach-)ärztliche Gutachten der Sachverständigen
Frau Dr. med. ... (Name, Adresse)
über folgende Fragen einzuholen:
1. Liegen bei der Antragstellerin ernsthafte Gesundheitsschäden vor und welcher Art sind diese Erkrankungen?
2. Welche diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sind bei den vorliegenden Erkrankungen erforderlich?
3. Ist die in der JVA durchgeführte Behandlung ausreichend und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend?
4. Ist eine mangelhafte oder unterbliebene ärztliche Untersuchung und Behandlung für die Schwere bzw. das fortgeschrittene Stadium der Erkrankung verantwortlich?
Ferner beantrage ich, anzuordnen, dass die JVA ... die Voraussetzungen für die Durchführung der gutachterlichen Untersuchung in der Praxis der benannten Gutachterin (oder in der JVA) schafft und der benannten Gutachterin die mich betreffende Krankenakte zur Verfügung stellt.
Da ich meinen gegenwärtigen Gesundheitszustand zum Gegenstand einer Schadenersatzklage machen will und da sich dieser Zustand in Kürze verändern kann, ist ein Beweissicherungsverfahren für meine Beweisführung dringend erforderlich. Die Hinauszögerung einer gutachterlichen Untersuchung würde insbesondere die Feststellung und den Nachweis, dass mein Gesundheitsschaden durch eine Pflichtwidrigkeit seitens der Anstaltsleitung und der Anstaltsärztin verursacht wurde, erheblich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen.
Eine außergerichtliche Beweissicherung war nicht möglich, da die Anstaltsleitung die Untersuchung durch eine unabhängige Sachverständige nicht zugelassen hat. Im Übrigen wird der Sachverhalt, den ich zum Gegenstand einer Schadensersatzklage machen werde, von der Antragsgegnerin bzw. von Anstaltsleitung und Anstaltsärztin als Beamtinnen der Antragsgegnerin bestritten.
Unterschrift
In der Regel wird das Gericht von dir zuerst die Kosten für die Sachverständige verlangen, bevor es die Untersuchung anordnet. Das Beste ist natürlich, jemand von draußen zahlt das Geld gleich ans Gericht, um Zeit zu sparen. Oder aber du fügst deinem Antrag eine Erklärung der Ärztin bei, wonach sie − zumindest für die Dauer der Haft − auf die Kosten des Gutachtens verzichtet. Der Antrag ist mit einer Abschrift bzw. einem Durchschlag an das Gericht zu senden.
Die Untersuchung durch die externe Ärztin
Wenn du Glück hast, kommt die beantragte Ärztin irgendwann und kann dich erstmal genau untersuchen. Dabei machen die Anstalten auch sehr oft noch Ärger durch Verweigerung der Krankenakte und anderes mehr. Am besten, du besprichst Reaktionen darauf mit der Ärztin − die ja davon dann auch betroffen ist − und deiner Rechtsanwältin. Die Untersuchung durch die externe Ärztin sollte immer ohne Knastärztin, Sanitäterin und dergleichen erfolgen. Man muss an dieser Stelle auf das Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin und Patientinnen hinweisen, das nur entstehen kann, wenn nicht noch andere Personen bei der Untersuchung anwesend sind. Außerdem gebietet es die ärztliche Schweigepflicht der externen Ärztin, dass du mit ihr allein bist. Die Entbindung von der Schweigepflicht (s. o.) wirkt ja nicht gegenüber den Sanitätsbeamtinnen. Das Beste ist, die Ärztin macht sich dafür stark, dass die Untersuchung ohne „Zuschauerinnen“ erfolgt, da man auf sie wesentlich mehr und eher hört als auf dich. Versuche also am besten vorher der Ärztin die Situation zu beschreiben, in die sie im Knast kommen wird, und mit welchen Schikanen und Hindernissen sie zu rechnen hat. Dasselbe gilt für die ewige Auseinandersetzung um die Krankenakte, die die Knastärztinnen nur sehr ungern − und dann oft frisiert − rausgeben. Bereite die externe Ärztin auch auf diese Auseinandersetzung vor. Am besten, deine Anwältin informiert die Ärztin über ihre Rechte als beratende und eventuell behandelnde Ärztin im Knast, damit die sich nicht so schnell einmachen lässt.
Die Ärztin als normale Besucherin
Bei Ablehnung oder langer Verzögerung des beantragten Ärztinnenbesuchs kannst du folgenden Notbehelf organisieren: Du lässt die externe Ärztin als normale Besucherin zu dir kommen. Eine richtige ärztliche Untersuchung ist dabei zwar nicht möglich, aber eine Beratung kann dir vorläufig sicher auch weiterhelfen. Bitte die besuchende Ärztin, dir ein Attest auszustellen, in das sie ihre Diagnose oder zumindest ihren Eindruck von deinen Beschwerden und Untersuchungen oder Behandlungen, die sie für notwendig hält, reinschreiben soll. Benutze dieses Attest dann dazu, weiter um eine richtige ärztliche Behandlung zu kämpfen.
Wer bezahlt die externe Ärztin
Der Staat muss zwar grundsätzlich die medizinische Versorgung der Gefangenen finanzieren. Nach offizieller Ansicht gehört dazu aber nicht die Behandlung durch eine Ärztin freier Wahl, es sei denn, die Knastärztin hat selbst eine externe Untersuchung angeordnet. Wie jede weiß, sind Ärztinnen im Allgemeinen teuer. Draußen ist man ja meistens krankenversichert und merkt davon nicht so viel. Im Knast bist du faktisch nicht krankenversichert (deine Krankenversicherung ruht während dieser Zeit), da ja eigentlich der Staat für deine Gesundheitsfürsorge im Knast zahlen soll. Eine private Krankenversicherung abzuschließen wird für die meisten Gefangenen zu teuer sein.
Es ist aber auch nicht unbedingt nötig, als Gefangene krankenversichert zu sein. In den seltenen Fällen, in denen man an eine Ärztin freier Wahl herankommt und demzufolge selbst die Kosten tragen muss, sollte es doch möglich sein, mit der Ärztin über das Honorar zu reden. Am besten macht man von Anfang an klar, dass man kein Geld hat. Es dürfte für die Ärztin kein so großes Problem sein, auf eine Bezahlung mal zu warten oder notfalls zu verzichten.
Ist deine Krankheit auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen, so muss die Unfallversicherung, in der du als Gefangene automatisch drin bist, die Behandlungskosten übernehmen. In diesem Fall wendest du dich − über die Sozialarbeiterin oder direkt − an die „Ausführungsbehörde für Unfallversicherung“ des jeweiligen Bundeslandes; dafür müsste es im Knast ein Formular geben.
18.1 Bedrohliche Eingriffe in den
Körper der Gefangenen
Dieser Abschnitt ist leider besonders wichtig, denn die Tendenz des Staates, den Körper der Gefangenen direkt anzugreifen und fügsam zu machen, ist nach wie vor ungebrochen. Hier heißt es grundsätzlich Stellung zu beziehen. Die Informationen, die wir dir hier geben, sind sehr allgemein und kurz. Sie können dir nur helfen, eine akute Bedrohung durch die staatlichen Weißkittel und Kriminalpsychiaterinnen zu erkennen und sofort bei Gefangenen, Anwältinnen, Angehörigen und Gefangenengruppen draußen Hilfe zu suchen. Merke: der Staat plant seinen Angriff auf deinen Körper meistens lange und genau. Du selbst erfährst erst im letzten Augenblick davon, wenn du deine „Einwilligung" geben sollst. Die „Einwilligungserklärung" von dir ist eine reine Maskerade. Du wirst nie richtig informiert. Der körperliche Eingriff wird immer so dargestellt, als ob es keine andere Möglichkeit gäbe. Aber es gibt sie. Es gibt moderne Formen der Gesprächs- und Verhaltensbehandlung im Kollektiv und in freien Arbeitsgruppen. Aber die werden vom Staat gehasst, denn sie kosten Zeit, Geld, decken außerdem die gesellschaftlichen Hintergründe deines Leidens auf und stiften Aufruhr. Deshalb: verweigere grundsätzlich die Einwilligung, bevor du nicht mit Freundinnen, Anwältinnen oder anderen Vertrauenspersonen gesprochen hast und ihr euch über deine Möglichkeiten im Klaren seid!
Zum Teil hat sich die Art aber auch die Form der Eingriffe innerhalb der letzten Jahrzehnte geändert. Aber es gibt nach wie vor Formen der Elektroschock-“Therapie“. Hauptsächlich jedoch finden die Eingriffe durch (Zwangs-)Medikation statt. In der Praxis werden meist bewusstseinsverändernde, persönlichkeitszerstörende Drogen, sogenannte Psychopharmaka, vor allem Neuroleptika verabreicht. Diese verändern den Kern der Persönlichkeit, wie auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, haben oft schwere Nebenwirkungen und können zu irreversiblen Dauerschäden, wie Dyskinesien (Bewegungsstörungen), Neurodegeneration, Parkinson und Demenz führen.
Weiterhin werden Hodenentfernungen, eher aber chemische Kastrationen durchgeführt. Dieser Eingriff darf aber im Gegensatz zur Zwangsmedikation nur mit deiner „Einwilligung“ erfolgen. Wie freiwillig diese Einwilligung dann ist, kannst du daran ablesen, dass die Alternative lebenslanges Weggesperrtsein ist.Zwangsmedikation kann auch ohne deine Einwilligung erfolgen. Um das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle zu zitieren: „Eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels ist nur zulässig, wenn der Untergebrachte krankheitsbedingt zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit oder zum Handeln gemäß dieser Einsicht nicht fähig ist.“ (BVerfG, Beschl. v. 23. 3. 2011 − 2 BvR 882/09 –NJW 2011/2113)
Unter anderem liegt eines der Hauptprobleme in der Pathologisierung von Verweigerungen. Wenn du dich weigerst dieses und jenes Medikament zu nehmen, besteht die Gefahr, dass sie dir eine Nicht-Einsicht in dein Krankheitsbild bescheinigen und damit eine Legitimität schaffen, dich zu zwangsmedikamentisieren.
Versuche Kontakt zu deiner Anwältin aufzunehmen und es über die Presse zu skandalisieren.
Darüber hinaus gibt es immer wieder Gerüchte darüber, dass in manchen Knastkliniken und Landeskrankenhäusern neue Medikamente und technische Behandlungsmethoden an Gefangenen und Internierten erprobt werden, die für den freien Markt noch nicht freigegeben sind. Halte Augen und Ohren auf. Achte vor allem bei Visiten darauf, ob die Weißkittel über „neue Verfahren" oder ähnliches sprechen. Wenn du im Zweifel bist, ob du nur als ein „Versuchskaninchen“ für ein neues Medikament benutzt wirst: lass dir den Namen des Medikaments erklären, genauso seine Wirkungsweise. Wenn sich dein Verdacht erhärtet, solltest du dich an die Selbsthilfegruppen der Gefangenen und Internierten wenden! Versuche auch mit Zeitungen bzw. Journalistinnen Kontakt aufzunehmen.
19.
Psychiatrie und
andere Maßregeln
Neben Knästen gibt es noch ein paar andere Möglichkeiten für den Staat, dich wegzusperren. Die wollen wir in diesem Kapitel kurz darstellen. Sie können – ähnlich wie der Knast – unterteilt werden in „vor dem Urteil“ und „nach dem Urteil“, also analog zu U-Haft und Strafhaft.
Im Grundsatz gilt für alle, dass du nur in eine Psychiatrie eingewiesen werden kannst, wenn du eine Verteidigerin hast (§140 Absatz 1 Nr. 6 Strafprozessordnung, StPO). Darauf solltest du unbedingt von Anfang an bestehen! Dich selber zu wehren ist viel schwieriger, weil du bei allem, was du sagst, den Psychiaterinnen Möglichkeiten gibst, dich schon mal ein bisschen „auszuwerten“.
Die Psychiatrie ist u.U. besonders gefährlich. Zum einen liegt das daran, dass die Unterbringungszeiten nicht zeitlich begrenzt sind. Du sitzt also keine Strafe ab, bei der du weißt, wann sie anfängt und wann sie aufhört, sondern musst darauf warten, dass du für gesund/nicht mehr gefährlich erachtet wirst. Zum anderen wirst du u.U. mit persönlichkeitsverändernden Medikamenten „behandelt“. Das kannst du auf jeden Fall erstmal verweigern. Falls sie dich dann zwangsmedikamentisieren wollen, versuche dir Hilfe zu holen bei Angehörigen, Freundinnen oder Anti-Psychiatrie-Gruppen (siehe Anhang). Vergleiche zu diesen Eingriffen auch →Kapitel 18 Gefängnismedizin.
19.1 Vor dem Urteil
Bevor ein Urteil über dich gefällt wurde, kommen im Wesentlichen zwei Möglichkeiten außerhalb der U-Haft in Betracht, dich aus dem Verkehr zu ziehen: Zum einen die Beobachtungsunterbringung und zum anderen die einstweilige Unterbringung.
Beobachtungsunterbringung:
Die Beobachtungsunterbringung nach §81 StPO wird verhängt, um dich zur Beobachtung in die Psychiatrie einzuweisen, damit dort eine Gutachterin, also eine Psychiaterin oder eine Psychologin (vgl. dazu →Kapitel 20 Gutachten) von dir in Ruhe ein psychiatrisches Gutachten anfertigen kann. Die „Unterbringung“ muss vom Gericht (nicht von der Ermittlungsrichterin, sondern von dem Gericht, das später auch für dein Verfahren zuständig ist) angeordnet werden, nicht z. B. von der Staatsanwältin. Deine Verteidigerin und eine Sachverständige müssen vorher angehört werden. Wie beim Haftbefehl auch ist Voraussetzung, dass ein „dringender Tatverdacht“ besteht, d. h., dass eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass du die Tat begangen hast.
Du bzw. deine Anwältin kann dagegen sofortige Beschwerde einlegen. Die hat aufschiebende Wirkung, das heißt, solange nicht über die sofortige Beschwerde vom höheren Gericht entschieden wurde, kannst du auch nicht in die Psychiatrie gesteckt werden.
Die Unterbringung darf aber nicht länger als sechs Wochen dauern. Halten die das nicht ein, solltest du unbedingt Stress machen. Ruf deine Anwältin an, wenn sie nicht von sich aus tätig wird.
Die einstweilige Unterbringung kann das Gericht schon vor dem Urteil beschließen, wenn es davon ausgeht, dass du im Urteil wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen, aber in eine Psychiatrie eingewiesen wirst, §126a StPO. Das Ganze ist ein bisschen wie U-Haft, nur dass du in die Psychiatrie und nicht in den Knast kommst, weil du als nicht (oder nur vermindert) schuldfähig giltst. Auch hier muss dringender Tatverdacht bestehen und der „Unterbringungsbefehl“ muss auch verhältnismäßig sein. Du kannst also nicht einfach wegen eines Ladendiebstahls in die Psychiatrie eingewiesen werden, nur weil du möglicherweise schuldunfähig warst als du den Ladendiebstahl begangen hast. In so einem Fall wäre die Psychiatrie als Reaktion auf den Ladendiebstahl laut Gesetz „zu hart“.
Anders als bei der U-Haft geht es hier nicht darum, dass du nicht abhaust, sondern um den „Schutz der Allgemeinheit“; du musst also für gefährlich gehalten werden, um einstweilig untergebracht zu werden.
19.2 Nach dem Urteil
„Maßregeln der Besserung und Sicherung“
Das Strafgesetzbuch nennt neben den Strafen (Geld- und Freiheitsstrafe) auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die gegen einen Menschen verhängt werden können – ob es der Justiz hierbei tatsächlich um Besserung geht, darf angesichts der praktischen Ausgestaltung stark bezweifelt werden.
Unterbringung in der Psychiatrie nach §63 Strafgesetzbuch (StGB):
Im Urteil kommt die ausgesprochene Einweisung in die Psychiatrie nach § 63 StGB in Betracht. Auch wenn insgesamt zweifelhaft ist, ob die Unterbringung überhaupt mit der UN-Behindertenkonvention vereinbar ist, die auch Deutschland unterzeichnet hat, wird der §63er von den Gerichten immer noch ausgesprochen. Dafür muss bereits bei der Verhandlung eine Gutachterin anwesend sein (§246a StPO), die allerdings das Gericht aussucht. Außerdem brauchst du eine Pflichtverteidigerin (§141 Absatz 3 StPO).
Die Unterbringung soll theoretisch keine Strafe sein. Sie darf daher nur angeordnet werden, weil du als gefährlich für die Allgemeinheit angesehen wirst, nicht weil du Schuld hast an einer Tat.
Das Tückische des §63er ist, dass er nicht von allein aufhört. Eine Haftstrafe hast du irgendwann abgesessen und selbst wenn du nicht vorher rausgelassen wirst, ist ja irgendwann TE, also der absolute Ablauf der Strafe, und dann können sie einfach nichts mehr machen, sondern müssen dich rauslassen. Anders beim §63er: hier bekommst du jedes Jahr eine (gutachterliche) Prüfung, ob du noch gefährlich bist und kannst theoretisch (und praktisch) einfach dein ganzes Leben darin versauern, weil man „lieber kein Risiko eingehen“ will und dich einfach drin lässt.
Häufig wird im Urteil sowohl eine Maßregel (etwa die Einweisung in die Psychiatrie nach §63 StGB oder in eine Entziehungsanstalt nach § 64 StGB) als auch eine Freiheitsstrafe (also Knast) ausgesprochen. Das geht allerdings nur, wenn du als vermindert schuldfähig nach §21 StGB angesehen wurdest. Denn dann bekommst du eine Strafe, die in der Regel gemildert wird und dazu eben eine Unterbringung.
Dann ist die Reihenfolge von Maßregel und Knast wichtig: Gesetzlicher Normalfall ist, dass du zuerst in der Psychiatrie sitzt, danach kommst du in den Knast, denn mit deiner „Behandlung“ soll ja sofort begonnen werden. Dann solltest du, wenn du es schaffst aus der Psychiatrie auf Bewährung rauszukommen, versuchen, dass auch die Haftstrafe gleichzeitig auf Bewährung ausgesetzt wird. Dann hast du zwar eine Art doppelte Bewährung, kannst aber schon früh wieder ganz rauskommen. Die Chancen dafür sind realistisch, weil die Entscheidungen, die für beide Arten der Bewährung getroffen werden (für die frühzeitige Entlassung aus der Unterbringung wird geprüft: bist du noch gefährlich? Für die Bewährung wird geprüft: wirst du wahrscheinlich nicht wieder straffällig?), ähnlich sind. Es ist nicht leicht, eine Entscheidung zu begründen, die sagt, dass du nicht mehr gefährlich bist, aber wahrscheinlich weitere Straftaten begehen wirst.
Das Gericht kann aber auch den sogenannten „Vorwegvollzug“ der Strafe anordnen (§ 67 Abs. 2 StGB, vgl. hierzu auch →Kapitel 14 zum „Vorwegvollzug“). Dann muss aber nach Verbüßung der Strafe geprüft werden, ob sich die Maßregel deshalb erledigt hat, weil du bereits durch den Knastaufenthalt „geheilt“ wurdest. Wenn du nach dem Urteil drei Jahre im Knast warst und dann in die Psychiatrie sollst, muss die Unterbringung sogar neu beantragt werden, §67c Absatz 3 StGB.
Dieser Vorwegvollzug der Strafe soll angeordnet werden, wenn du neben einer hohen Freiheitsstrafe (über drei Jahre) noch in die Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) sollst oder wenn du als Ausländerin eine Ausweisung kassiert hast und das Gericht davon ausgeht, dass du direkt aus dem Knast abgeschoben wirst.
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach §64 StGB:
Haben Drogen und/oder Alkohol bei der dir vorgeworfenen Tat eine Rolle gespielt, kannst du, egal ob du letztendlich verurteilt oder wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen wurdest, auch in eine Entziehungsanstalt eingewiesen werden. Einzelheiten findest du →Kapitel 14 Drogen im Knast.
Verlegung aus dem Knast in die Psychiatrie:
Schließlich kannst du aus dem Knast in die Psychiatrie verlegt werden, weil du „untragbar für den Vollzug“ bist. Hierüber bestimmt die Anstaltsleitung.
Auch dies muss dann aber ein Gericht anordnen und zwar das Amtsgericht nach §126a StPO, wenn du noch nicht verurteilt wurdest, anderenfalls nach dem PsychKG („PsychischKranken-Gesetz“) des jeweiligen Bundeslandes, wenn der §63 nicht im Urteil mit verhängt wurde.
Schließlich gibt es noch die Sozialtherapie, eine Mischform aus Knast und Psychiatrie (eher aber Knast). Sie ist in allen Landesstrafvollzugsgesetzen vorgesehen, in NRW zum Beispiel §§ 88-90 StVollzG NRW.
Sie kann entweder in einer eigenen sozialtherapeutischen Anstalt (SothA) oder aber in einer besonderen Teilanstalt eines normalen Knastes stattfinden.
Du bekommst da eine ziemlich gute „Betreuung“, in NRW zum Beispiel in kleinen Wohngruppen, die jeweils durch eine Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes, eine Psychologin und fest zugeordnete Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes betreut werden. Sie ist unter Gefangenen ziemlich beliebt, weil hier die Lockerungsmöglichkeiten sehr gut sind, man kann vor allem im Gegensatz zu anderen Gefangenen den sogenannten Langzeitausgang bis zu sechs Monaten bekommen, eine Art Freigang mit begleitender Psychotherapie. Du kannst in die SothA kommen bei schweren Straftaten, wenn du dazu eine Persönlichkeitsstörung attestiert bekommen, aber trotzdem eine gute „Besserungsprognose“ hast. Dafür musst du angeben, dass du therapiewillig und -fähig bist und über deine Straftat und deine Persönlichkeit und alles nachdenken willst. Die Wartezeit ist oft ziemlich lang, so dass es sinnvoll ist, die SothA nicht zu spät zu beantragen, weil sie dich nicht mehr aufnehmen, wenn du keine zwei Jahre mehr vor dir hast.